In der Nacht nach Nikolaus
wurde ich um 1:30 Uhr durch meinen eigenen Schrei aus einem Alptraum geweckt. So etwas passiert mir höchstens einmal im Jahr. Und normalerweise
handeln meine Alpträume immer „nur“ von Neonazis. Diesmal war es anders: Vor
mir sah ich jede Menge Männer mit etwas dunklerer Hautfarbe und dunklen Bärten.
Mein Herz schlug bis zum Hals.
Wieso hatte ich diesen
Alptraum?
Zwar hatte ich am Nikolaustag
noch an einen Frauenbildungsverein in Afghanistan gespendet – ich konnte mir
also sagen: „Doch, ich tue etwas, damit die Welt besser wird“. Aber ich hatte
kurz vorm Einschlafen nochmal die Nachrichtenlage gecheckt, und die Informationen
waren fürchterlich.
Nachrichten aus Israel und
dem Iran vorm Schlafengehen? Keine gute Idee.
Am 6.12. war bekannt
geworden, was die aus dem Kibbuz entführten Frauen dort und im Gazastreifen erlebt
hatten. Außerdem gab es Berichte über das, was man Demonstrantinnen im Iran
angedroht hatte. Nicht gerade Bilder, die das Schlafen erleichtern. Dagegen
helfen auch keine Spenden.
Die Bilder waren einfach
im Kopf und ließen sich nicht vertreiben.
Ich lag also da - in meinem
sicheren Bett, aber das Herz voll mit Angst, Aufregung und Hass auf diese
Männer mit etwas dunklerer Hautfarbe und dunklen Bärten. Ich versuchte, mich zu
erinnern an andere Fotos aus den letzten Wochen – von anderen Männern mit
dunklen Bärten, die kleine rosa-gekleidete Mädchen im Arm zu schützen
versuchten, auch im Gaza-Streifen. Das beruhigte mich ein bisschen: „Die sind nicht alle gleich.“ –
Das weiß ich natürlich, nur eben nicht unbedingt nachts um halb zwei nach einem
Alptraum. Und dann tauchten plötzlich weitere Bilder auf, nämlich aus meinem
eigenen Leben:
Mit 18 war ich mit meiner
Freundin Meggi im Kibbuz Ein Gev.
Im Rahmen der Aktion
Sühnezeichen haben wir dort am See Genezareth als Volunteeers gearbeitet, und
an unseren freien Tagen wollten wir das Land erkunden. Israel ist ja nur ein
Drittel so groß wie NRW. Das schien uns überschaubar. Meggi und ich kamen von
einem humanistischen Gymnasium in NRW. Wir
waren jung, grün, gläubig und gutgläubig.
Da wir wenig Geld hatten,
wollten wir trampen.
Bis nach Tiberias hatte uns
jemand aus dem Kibbuz mitgenommen. Dort stellten wir uns an eine viel befahrene
Straße, Daumen raus. Kein Auto hielt. Ewig nicht. Inzwischen war es dunkel
geworden. Wir fanden es ein bisschen unheimlich, aber wir wollten in keinem
Fall zurück zum Kibbuz. Wir wollten ja etwas erleben. Irgendwann waren wir kurz
davor, uns auf einer Bank im Park schlafen zu legen.
Da hielt plötzlich doch
ein Auto: Ein alter weißer Lieferwagen.
Der Mann darin hatte etwas
dunklere Hautfarbe, einen dunklen Bart, und er trug das typische weiße
„Araber-Gewand“. Er herrschte uns in gebrochenem Englisch an, dass wir schnell einsteigen
sollten. Er war uns unheimlich, aber irgendwie hatten wir keine Wahl. Kaum
waren wir drin, gab er Gas.
Wir verstanden kaum ein
Wort, aber er wirkte aufgebracht.
Er sprach davon, dass junge
Frauen und Männer nicht gut wären (wie gesagt, wir konnten es kaum verstehen
und trauten uns auch nicht, zu sprechen). Er würde uns zu seiner Schwester
bringen und uns dort einschließen. Da wären noch viele andere Frauen. Und dann
wieder irgendwas von Männern.
Für uns war klar: Der
bringt uns in einen Puff. Oder in seinen Harem?
Da hatten wir unser Abenteuer
… Wir hatten Angst, ist ja klar. Aber es gab jetzt keinen Ausweg. Der Mann am
Steuer war groß und stark, er konnte uns sonstwo hinbringen. Wir dachten, dass
seine Schwester vielleicht für ihn ein Bordell führte. Wir befürchteten das
Schlimmste, aber wir konnten nichts tun.
Es gab keine
Fluchtmöglichkeit.
Irgendwann rollte der Mann
auf einen Platz mit einer Tankstelle und mehreren Melonen-Händlern: Mitten in
der dunklen Pampa ein erleuchteter Sandplatz mit Männern, die neben den
Zapfstellen ihr Obst verkauften. Der Araber tankte, kaufte Melonen, ließ
eine davon direkt in Spalten schneiden und gab sie uns.
„You EAT!“ herrschte er
uns an. Mehrfach. Gebieterisch.
Ich
mag keine Melonen, mochte ich noch nie. Diese glitschigen Kerne und der
Geschmack ließen mich fast würgen. Aber Meggi wiederholte in einem
unbeobachteten Moment zischend: „ISS das!! Sonst ist der beleidigt! Wer weiß,
was der dann mit uns macht! Die sind doch so!“ Also quälte ich mich durch drei
Melonenscheiben.
Zwischendrin sprach der Araber mit anderen Männern
über uns. Die lachten.
Es
war gruselig. Schon als der Mann mit dem Tanken beschäftigt war, hatten Meggi
und ich überlegt, ob wir fliehen sollten. Aber wohin? Da war ja nichts. Dieser
seltsame Tankstellen-Melonen-Handel lag irgendwo an einer langen Straße. Es gab
kein Dorf, kein Licht, keine Infrastruktur, nix. Also stiegen wir wieder ein, und die Fahrt
ging weiter.
Er fuhr tatsächlich nach Nazareth!
Das
war der Ort, wo wir hinwollten, denn da kam ja Jesus her. Zwischendrin sprach
er wieder von der Schwester und den anderen jungen Frauen, und auch vom
Einschließen. Wir waren ängstlich-gespannt. Aber jedenfalls waren wir in
Nazareth. Schließlich fuhr das Auto den Berg hoch und hielt vor einer Tür.
Wer uns öffnete?! Eine Nonne!
Noch
nie im Leben war ich so froh gewesen, ein Kloster zu sehen. Dass es direkt
neben der Verkündigungskirche lag, merkten wir erst am nächsten Morgen. Vor
Erleichterung liefen mir die Tränen übers Gesicht, bei Meggi war es ähnlich.
Der Abschied von unserem Retter war herzlich, aber kurz. Alle Anspannung fiel
von uns ab, als wir in den Schlafsaal geführt wurden, wo wir mit 16 anderen
Frauen übernachteten.
Der Mann war ein christlicher Araber!
Bis
dahin wussten wir gar nicht, dass es so etwas gibt: Christliche Araber. Aber
tatsächlich hatte er uns in Sicherheit gebracht zu einer „Schwester“, wo eben
viele weitere junge Frauen waren und wo hinter uns abgeschlossen wurde, damit
kein Mann uns etwas antun könnte. So erklärte es die Nonne, aber da schliefen
wir schon fast.
Ich bin froh, dass mir diese Geschichte in der Nacht
zum 7.12. einfiel.
Denn
eigentlich weiß ich ja wie wir alle, dass man nie ganze Bevölkerungsgruppen
über einen Kamm scheren darf, dass jeder Mensch ein Individuum ist, dass nie
alle böse (und leider auch nie alle gut) sind, dass man das Einzelschicksal
ansehen muss, um handlungsfähig zu bleiben. Das gilt für alle Menschen in
Israel und im Gaza-Streifen. Und ich finde es wichtig, sich immer wieder daran erinnern.
Kurz vor Corona war ich wieder in Israel. Und im Westjordanland.
Diesmal
mit einer Reisegruppe und mit dem Mann an meiner Seite. Wir waren auch in
Nazareth, und ich bin aufgeregt zur Klosterpforte hochgegangen und in die
Verkündigungskirche. Dort habe ich eine Kerze angezündet und nach 33 Jahren
nochmal ein dickes Danke gen Himmel geschickt für all die Schutzengel, die Meggi
und ich auf unserer Reise damals hatten (wir sollten sie noch mehrmals brauchen). Und dann ging es weiter nach
Bethlehem.
2019 also erzählte unser jüdischer Guide: „Bethlehem
ist wie eine Insel.“
Die
Mauer und das Banksy-Hotel weisen darauf hin, dass die palästinensischen
Autonomiegebiete und Israel hier dicht an dicht liegen, und es ist ein
gruseliger Anblick, natürlich. So wie damals Berlin vor dem Mauerfall. Aber wie
unser Guide erklärte: Auch in Kriegszeiten sei es dort friedlich gewesen, der
Grenzübertritt sei immer in beide Richtungen unkompliziert möglich gewesen.
Aktuell stimmt das wohl leider nicht mehr.
Und
das heißt, es ist wie immer: Die einzelnen Menschen leiden, und wie immer grundsätzlich auf
allen Seiten. In Israel und in Gaza und im Westjordanland. Ich
wünsche Bethlehem und der Welt nicht nur jetzt zu Weihnachten, was mein Jugendheld Chris de Burgh damals, als ich 18 war, in
seinem Weihnachtslied „A spaceman came traveling“ besungen hat:
„Peace and goodwill to all men (and women), and love
for the child“.
Schade,
dass Gott und die Welt vor 2000 Jahren noch nicht bereit waren für eine
Gottestochter. Josef wäre ganz bestimmt auch für eine kleine „Jesa“ ein guter
irdischer Vater gewesen. Er hätte sie beschützt wie die Väter mit der etwas dunkleren Hautfarbe und den dunklen
Bärten auf den Fotos, die die kleinen
rosa-gekleideten Mädchen in Sicherheit gebracht haben.
Ich bin sicher: Er hätte das Beste für sie gewollt – Frieden
und Liebe.
So,
das wollte ich an diesem sonnigen Kölner Dezembermorgen – am 7.12. weit
vor dem Newsletter-Versand-Termin – mit Ihnen teilen. Es ist eine persönliche
Geschichte, die vielleicht nicht in diesen beruflichen Newsletter gehört. Aber
zu Weihnachten liest das hier eh keiner (denke ich mir so), und mir war es nach
dieser Alptraumnacht einfach ein Bedürfnis, auch um meine Sicht auf die Welt wieder
ein winzig kleines bisschen zurechtzurücken. Danke fürs Zuhören.
Gesegnete Weihnachten!
Die wünscht Ihnen von Herzen
Anne Katrin Matyssek