Liebe Freunde bis Freundinnen,
eigentlich sollte es in diesem ersten Newsletter 2023 um Neujahrsvorsätze gehen. Wahrscheinlich wurde dazu aber eh schon alles geschrieben, jede Perspektive beleuchtet und überhaupt: Nicht alle von uns können sich Veränderung leisten. Manche müssen auch so bleiben, wie sie sind. Sei es aus finanziellen oder sozialen Gründen oder wegen fehlender emotionaler Energie.
Während wir uns 2022 um eine gerechtere Gesellschaft in der Welt gesorgt haben, um eine lebenswerte Zukunft und bezahlbare Heizrechnung, hat eine Hamburger Volksinitiative andere Prioritäten gesetzt: „Schluss mit der Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ heißt sie. Geplant ist ein Volksentscheid für ein Verbot in Hamburg, sofern die dafür notwendigen Unterschriften gesammelt werden können. Derzeit wird noch an einem juristisch einwandfreien Abstimmungstext gefeilt.
Wir finden das super. Dieses Gendern sollte endlich aufhören! Denn das generische Maskulinum ist letztlich nix anderes als eine Genderzuweisung. Und zwar eine männliche. Sobald es um Personen geht, finden wir das kritisch. Was wir viel lieber sähen: eine Variante, die gleichermaßen alle Geschlechter anspricht. Wir wollen genau genommen also gar nicht gendern, wir wollen ent-gendern! Verwirrend? Hier kommen ein paar Details:
Die Initiative nennt Befürwortende der gendergerechten Sprache „radikal“. Zu Recht? Wikipedia sagt: „Das Adjektiv „radikal“ … beschreibt das Bestreben, gesellschaftliche und politische Probleme „an der Wurzel“ zu greifen und von dort aus möglichst umfassend, vollständig und nachhaltig zu lösen.“1 Hm. Ist ein Verbot, wie es die Initiative vehement fordert, nicht die viel radikalere Maßnahme? Das sogenannte Gendern ist ja nur eine kleine von vielen Ideen, die sozialen Missstände einerseits aufzuzeigen und gleichzeitig den Ungehörten in unserer Gesellschaft etwas mehr Resonanzraum zu geben. Klar lösen wir 5000 Jahre Patriarchat nicht mit einem Glottisschlag ab. Aber vielleicht kann diese kleine akustische Pause hin und wieder zu einer Denkpause anregen?
Das generische Maskulinum ist zu einer Zeit entstanden, als Männer die Sicht auf die Welt geprägt, vor allem aber: dokumentiert haben. Schrift, und damit die Überlieferung von Sprache und die Entwicklung einheitlicher Grammatik, war jahrhundertelang hauptsächlich Männern vorbehalten. Das ist schon ein bisschen einseitig, oder? Dass wir zur Abwechslung mal ein paar hundert Jahre ein generisches Femininum einführen oder gar ein generisches Neutrum, stieß bei den Wenigsten auf Begeisterung. Bei Bundeskanzlerin Scholz nicht – und bei uns auch nicht: Uns geht’s ja um Gerechtigkeit für die Zukunft, nicht um Genugtuung für die letzten Jahrhunderte. Und da denken wir eben auch an Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren. Das Sternchen ist wie das generische Maskulinum ein Symbol, mit dem alle mitgemeint sind. Ein Platzhalter, aus der Informatik entlehnt. Der Vorteil: Das Sternchen schlägt sich auf keine Seite – es ist inklusiv. Es wird sogar vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. empfohlen, wenn in Kurzform geschlechtergerecht formuliert werden soll.2
Und was sagt die Politik? Während der Bundestagsabgeordnete und Hamburger CDU-Vorsitzende Christoph Ploß sich für ein Verbot stark macht, positionieren sich Grüne wie die Bundestagsabgeordnete Katharina Beck und auch die Gleichstellungssenatorin und zweite Bürgermeisterin Hamburgs Katharina Fegebank gegen die Initiative, welche sich teils aus dem rechten Spektrum speist. Das erinnert an die Kooperationen der CDU mit der AFD, die im Thüringer Landtag im November 2022 tatsächlich schon zu einem Beschluss vom „Verzicht auf grammatikalisch falsche Gendersprache“ geführt hat. Rechtsbindend ist der natürlich nicht. Ein deutliches Zeichen setzt er trotzdem. Andere Politiktreibende wiederum, wie z. B. Winfried Kretschmann, verlagern die aktuelle Diskussion und überdecken die strukturellen Probleme unseres Bildungswesens mit Anti-Gendersprache-Argumenten wie: Die Schulkinder seien doch schon überfordert genug mit der Rechtschreibung. Die Initiative nennt aber nicht unser marodes Bildungswesen oder unsere Sozialpolitik „diskriminierend, integrationsfeindlich und vorurteilsbeladen“, sondern, ihr ahnt es: Das Sternchen ist an allem schuld.
Klar ist Hamburg nicht der Nabel der Welt. Momentan sind zwei Drittel der Deutschen gegen das Gendern. Noch. 51 Prozent der Befragten waren aber auch gegen ein ausdrückliches Verbot, wie es die Initiative fordert!3 Solche Verbote machen uns immer erst mal stutzig. Zumal, wenn die Nutzung vorher freiwillig war. So ist’s ja auch mit dem Gendern: Es ist eine von vielen Möglichkeiten, Menschen Sichtbarkeit zu geben und damit Anerkennung. Gerechte Sprache kann superkompliziert oder ganz einfach sein. Ob nun Glottisschlag, substantiviertes Partizip oder geschlechtsneutraler Plural: Es ist für alle was dabei.