Vielfalt für Alle Mein 5-Jähriger und ich sind für diese Sache ziemlich hart angegangen worden. Noch bevor ich mich dazu entschied, auf einige Anfragen zu reagieren, war sein Verhalten in Internetkommentaren mit dem von Kindern verglichen worden, die schlagen, spucken, gar in der Öffentlichkeit auf den Boden kacken – immer mit der rhetorischen Frage verbunden, wer so etwas seinem Kind erlauben würde. Mir hingegen wurde vorgeworfen, dass ich einen Medienstunt auf Kosten meines Sohnes produzieren würde, um mich in den Vordergrund zu spielen. Dass ich meine eigene latente Homosexualität durch ihn ausleben würde. Oder dass ich einfach zu schwach wäre, meinem Sohn klare Grenzen darin zu setzen, was richtig und was falsch ist. Ist das so? Ist es falsch für einen Jungen, Röcke und Kleider zu tragen? Oder meinetwegen auch ein rosa Laufrad zu fahren, sich die Haare lang wachsen zu lassen und von glitzernden Einhörnern zu träumen. Ist das wirklich eine Art Fehlverhalten, das nicht toleriert werden sollte? Was genau wäre an dieser Stelle meine Aufgabe als Vater gewesen, der ich angeblich nicht nachgekommen bin?
Die für mich bemerkenswerteste Antwort darauf fand der britische Journalist Jake Wallis Simons. Anhand der Rockgeschichte überlegte er in einer Kolumne, wie er mit einer solchen Situation umgehen würde, und kam dabei zu dem Schluss, dass er ein solches Verhalten zwar unterstützen, aber nicht fördern würde. Simons weiß, wovon er spricht. Ein Jahr vor Erscheinen meines Artikels wurde seinem Cousin Philip Sallon, einem bekannten britischen Aktivisten für die Rechte von Homosexuellen, auf offener Straße der Schädel eingeschlagen. Er überlebte den Anschlag knapp. Simons ging es in seinem Kommentar also nicht darum, mich mit Dreck zu bewerfen, Homosexualität verächtlich zu machen oder mir irgendwelche unlauteren Motive zu unterstellen. Stattdessen ging es ihm darum, genau die begründeten Sorgen zu äußern, die viele Eltern von Prinzessinnenjungs haben: Wie schütze ich meinen Sohn vor Anfeindung, Ausgrenzung und Gewalt? Für Simons war wichtig, in notwendig und überflüssig zu unterscheiden. Wenn mein Junge den Drang verspürt, Röcke und Kleider anzuziehen, und sich überhaupt nicht dagegen wehren kann, dann müsste selbstverständlich alles getan werden, um ihn zu unterstützen. Wenn das aber erkennbar nur eine Phase ist oder gar ein einmaliges Ausprobieren, dann sollte man davon Abstand nehmen, ihn in der Öffentlichkeit als jemanden zu markieren, der gerne Röcke und Kleider trägt. In meinen Augen liegt Simons damit so richtig wie falsch. Selbstverständlich ist es wichtig, sich der Realität zu stellen und nicht so zu tun, als wäre alles eitel Sonnenschein, in den ein berockter Junge ungestört und unbelästigt hinaustreten kann. Sich der Realität stellen bedeutet aber auch, anzuerkennen, dass es niemals ganz gelingen wird, sich einer gewalttätigen, sexistischen Gesellschaft so anzupassen, dass auf keinen Fall etwas passieren kann. Ein Junge, der zeit seines Lebens augenscheinlich komplett dem vorherrschenden Ideal von Männlichkeit entspricht, kann in der Pubertät ohne Weiteres von jemand anderem als unmännlich markiert werden und entsprechende Repressionen erleiden. Womöglich wird er dabei sogar von einem Freund denunziert, der selbst Schwierigkeiten damit hat, seine eigene Identität mit den aktuellen Männlichkeitsvorgaben in Einklang zu bringen. Der Fehler liegt im System. Nicht daran, dass sich ein Prinzessinnenjunge nicht ausreichend tarnt. Auch nicht daran, dass ihm von seinen Eltern seine Prinzessinnenhaftigkeit nicht ausreichend verleidet und ausgetrieben wurde. Die Ansage: »So benimmt sich kein Junge« hilft niemandem weiter und sollte niemandes Aufgabe sein. Sie folgt lediglich der Logik, dass mindestens einer im Männlichkeitskarussell verlieren muss. Auf mindestens einen muss mit dem Finger gezeigt werden, weil die ganze Männlichkeitskonstruktion so fragil, so widersprüchlich ist, dass ihr eigentlich niemand vollumfänglich entsprechen kann. Eine kleine Abweichung, eine leichte Asymmetrie genügt schon, um ein Gefühl zu erzeugen, den Anforderungen an männliche Geschlechtsidentität nicht zu genügen. Und um nicht selbst dran glauben zu müssen, werden andere haftbar gemacht und sollen bluten.
Guck mal, der spielt mit Puppen.
Iiiih, der trägt ja Mädchenfarben.
Schau, der läuft im Kleid rum.
Das Besondere an Männlichkeit ist dabei nicht, dass sie als Gruppenzugehörigkeitsmerkmal durch Abgrenzung funktioniert: Wir sind männlich und du nicht! Das gilt nämlich für alle Gruppen. Männlichkeit zeichnet sich jedoch darüber hinaus in besonderer Weise durch Denunziation aus. Durch die Unterstellung, dass ein Junge oder Mann nicht dazugehört. Der Vorwurf der Unmännlichkeit gleicht einer von Männlichkeit ausgehenden Verschwörungstheorie. Männlichkeit scheint stets von Unterwanderung bedroht, von der Aushöhlung durch weibische Umtriebe. Kaum einmal ist sie sich selbst genug. Sie genügt sich erst, indem sie andere für ungenügend erklärt. Simons argumentiert, dass wir uns an die Regeln halten und das Spiel erst dann ändern sollten, wenn ein besonderer Mitspieler am Tisch sitzt. Beispielsweise ein Junge, dessen Identität so außergewöhnlich ist, dass sich seine Andersartigkeit nicht verbergen lässt – nur dann müssten sich alle extra viel Mühe geben. Ich würde argumentieren, dass es nicht unsere Aufgabe sein kann, Jungen dazu zu befähigen, dieses Spiel besonders gut mitzuspielen. Vielmehr ist es an der Zeit, die Regeln zu hinterfragen und sie dahingehend zu ändern, dass niemand leiden muss, um einem überkommenen Männlichkeitsideal zu genügen. Denn es ist höchste Zeit, sich mehr für das Wohl von Jungen und Männern zu interessieren.
Also, was tun? Was machen wir mit unseren langhaarigen, pinkbegeisterten Jungen, die sich auf dem Flohmarkt in ein Eiskönigin-Elsa-Kleid verlieben und im Drogeriemarkt gerne ein paar Haarspangen kaufen wollen? Erklären wir ihnen, dass sie diese Facetten ihrer Identität lieber zu Hause ausleben, weil draußen ja etwas passieren könnte? Oder fangen wir an, dafür zu sorgen, dass ihnen dafür nichts mehr passiert? Ich bin für Letzteres. Ich bin für Vielfalt für alle. Dabei will ich Ihnen nicht vorschreiben, das zu tun, was ich getan habe. Vieles davon war einfach Zufall und dem Gefühl geschuldet, dass ich es mir leisten kann. Stattdessen möchte ich Sie dazu auffordern, zu tun, was Sie können. Und das ist eine ganze Menge. Geben Sie Gegenständen, Farben und Verhaltensweisen kein Geschlecht. Erzählen Sie Ihren Söhnen nicht, dass dieses oder jenes nur für Mädchen sei und sich für Jungen nicht schicke. Werten Sie Weiblichkeit nicht ab und zwingen Sie Jungen nicht dazu, Weiblichkeit abzuwerten, um Ihr Wohlwollen oder Ihre Kameradschaft zu erringen. Immerhin bilden wir uns als Gesellschaft viel auf Authentizität ein und beglückwünschen Menschen dazu, »sich nicht verbiegen zu lassen«. Darum geht es. Nicht etwa darum, Jungen in eine uniforme, genderneutrale Gesellschaft zu biegen, sondern darum, endlich damit aufzuhören, an ihnen herumzuzerren, damit sie in stereotype Geschlechterrollen passen. Genau das tun wir immer noch so oft. Auf Biegen und Brechen.
Wenn Sie keine Lust haben, sich die Nägel zu lackieren und mit Ihren Prinzessinnenjungs eine Teeparty zu schmeißen, dann lassen Sie es. Aber brechen Sie ihrem Sohnemann nicht das Herz, wenn er sich zum Geburtstag ein rosa Fahrrad oder einen lila Rock wünscht. Und wenn andere Kinder ihn deshalb angehen, weil Röcke nichts für Jungen sind und Rosa angeblich eine Mädchenfarbe ist, dann stellen Sie das richtig:
Ein Rock ist ein Rock ist ein Rock ist ein Rock. Und Rosa und Pink sind für alle.
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