Subject: #MeToo und Stuckrad-Barre

Liebe Freund*innen,

Frage: Wie dreist und selbstgefällig kann man Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt als Grundlage für einen Roman nehmen, mit dem Gehabe des Aufklärers, ohne jegliche ernstzunehmende Bestrebungen, diese Systeme zu verändern?
Antwort: Benjamin von Stuckrad-Barre.


Ihr merkt schon, wir sind richtig sauer. Und fassungslos, auf welch unkritische bis ranschleimende Art und Weise viele große Redaktionen und besonders Feuilletonjournalisten das Erscheinen von Stuckrad-Barres neuem Buch „Noch wach?“ begleiten; selbst in Nachrichtensendungen fand es letzte Woche Erwähnung. Immerhin geht es um Springer und #MeToo, die ganze Nation fragte sich, was würde wohl enthüllt, wer würde wohl beschuldigt werden? Immerhin war Stuckrad-Barre 10 Jahre lang für Springer tätig und deutlich länger mit Mathias Döpfner, Springer-Chef, eng befreundet, ist Taufpate eines seiner Kinder.

Nun, viel Konkretes hat Herr Stuckrad-Barre trotz intimer Kenntnisse nicht zu sagen. Er zieht sich immer darauf zurück: Der Roman sei ja schließlich fiktiv.

Das hält den guten Mann aber nicht davon ab, mit aufdeckerischer Manier schlechtgelaunt Interviews zu geben, als wäre er da als Erster etwas ganz Heißem auf der Spur. Als würden nicht Journalist*innen seit Jahren zu #MeToo recherchieren und schreiben, Zusammenhänge aufzeigen, auf die gewaltigen Ausmaße des strukturellen Problems hinweisen, von eigenen bitteren Erfahrungen berichten – obwohl sie wissen, dass das auf mehreren Ebenen immer noch ein Risiko sein kann.


Aber da muss offensichtlich erst ein männlicher Autor angerannt kommen, um eine solch riesige Aufmerksamkeit für dieses Thema zu bekommen. Ein Autor, der selber so viele Jahre von dem System des Machtmissbrauchs bei Springer profitiert hat, für wenige Texte im Jahr irritierend hoch entlohnt wurde und offensichtlich schon lange von den Vorwürfen zu sexualisierter Gewalt wusste. Der bisher nicht durch emanzipatorische und machtkritische Bestrebungen aufgefallen ist und nun von oben herab erzählt, wie schlimm es den betroffenen Frauen ja ergangen sei. Wir können es nicht oft genug sagen: Stuckrad-Barre war selber jahrelang Profiteur von Machtmissbrauch und Medien-Männerfreundschaften und lässt sich nun feiern für vermeintliche Aufklärungsarbeit zu #MeToo - ohne jegliche Anerkennung der vielen wichtigen Menschen, die schon so lange und immer wieder an dem Thema arbeiten. Wenn es den Begriff „Mansplaining“ nicht schon geben würde, wir würden ihn jetzt sofort für Herrn SB erfinden.


Denn eins ist sicher – „Noch wach?“ selbst wird nicht den geringsten Beitrag zu nachhaltiger Auseinandersetzung mit Machtmissbrauch leisten. Deswegen ist es jetzt an uns allen, die Debatte zu drehen. Wir von Pinkstinks wollen mit diesem Newsletter dazu beitragen, indem wir euch Texte, Podcasts und Bücher vorstellen, die sich ebenfalls mit #MeToo und Stuckrad-Barre beschäftigen, aber den Finger wirklich in die Wunde legen.


Alles Liebe

Euer Pinkstinks Team


PS: Um Teresa Bückers Frage auf Twitter Nachdruck zu verleihen: Lieber Herr Stuckrad-Barre, an welche Frauenrechtsorganisation spenden Sie denn nun Ihr Honorar? Uns würden da mehrere einfallen. 😉

TEXTE & PODCASTS

Nils Pickert hat sich heute bei uns über die ungerechte Verteilung von Aufmerksamkeit Gedanken gemacht: „Literarisches Männleinwunder“


Teresa Bücker schreibt darüber, dass der Autor sich jetzt als Retter der Frauen aufspielt und entlarvt einen von einer anderen Debatte bekannten Mechanismus: „Applaus für das Mindeste“


Samira El Ouassil denkt darüber nach, warum die betroffenen Frauen so wenig Aufmerksamkeit bekommen: „Die unsichtbaren Frauen“


Mareice Kaiser hat die Aussage, dass Stuckrad-Barre das Buch auf den Seychellen geschrieben hat, zum Anlass genommen, einen Text über Care-Arbeit und Bücherschreiben zu verfassen: „Wer macht Kultur, wer kümmert sich?“

Miriam Zeh übt im Deutschlandfunk Kritik an der Diskussion über das Buch: „Keine Debatte über Machtmissbrauch“


Eine gute Rezension, die die Probleme des Buchs im Umgang mit Machtstrukturen benennt und klar sagt, worum es in dem Buch wirklich geht („eine Absolutionserzählung“), ist die von Miriam Zeh für Deutschlandfunk Kultur: zum Hören - eine Zusammenfassung zum Lesen auf Instagram


Und dann wollen wir auch noch den richtig guten Podcast „Boys Club - Macht & Missbrauch bei Axel Springer“ ans Herz legen. Die beiden Journalistinnen Pia Stendera und Lena von Holt blicken hinter die Fassaden des Axel Springer Verlags, zeigen auf, wie die „BILD“-Redaktion tickt - und legen so ein System offen, das einen Mann wie Julian Reichelt erst möglich gemacht hat. 

BÜCHER

Das Licht ist hier viel heller“ von Mareike Fallwickl - ein Roman von 2019 über einen in Vergessenheit geratenen Autoren, der sich die Geschichte von sexueller Gewalt einer Frau aneignet, darüber ein Buch schreibt. Und dafür groß gefeiert wird. Mareike Fallwickl scheint hellseherische Fähigkeiten zu haben. Hier gibt’s eine Rezension dazu.

„Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes - ein #MeToo-Briefroman der großartigen französischen Autorin über drei Kulturschaffende. Hier gibt’s eine Rezension dazu.


„Das Privileg“ von Mary Adkins - ein #MeToo-Roman, der von drei Frauen an einer amerikanischen Universität handelt. Hier gibt’s eine Rezension dazu. 


„#MeToo. Von der ersten Enthüllung zur globalen Bewegung“ von Jodi Kantor und Megan Twohey - ein Sachbuch über #MeToo, geschrieben von den Journalistinnen, die mit ihren Recherchen zu Harvey Weinstein den Anfang gemacht haben. Hier gibt’s eine Rezension dazu.

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