Subject: Von »Verantwortung für Deutschland« ist wenig zu spüren

*** Wahlbeobachter*in ***

Wahlbeobachter*in



Liebe Freund*innen,


der Koalitionsvertrag steht1. CDU/CSU haben sich mit der SPD darauf verständigt, was sie in einer gemeinsamen Koalition in den nächsten vier Jahren angehen wollen. Und auch darauf, was sie an politischen Entscheidungen vertagen oder gar nicht umsetzen werden. Während Markus Söder das 144 Seiten starke Werk auf der Pressekonferenz einen »Bestseller« nennt und ein paar Witzchen reißt, skizzieren Friedrich Merz, Lars Klingbeil und Saskia Esken ihre Vorstellung von gemeinsamer politischer Verantwortung.2 Aber gerade weil der Koalitionsvertrag den Titel »Verantwortung für Deutschland« trägt und »Verantwortung« in den vergangenen Jahrzehnten zu einer extrem überstrapazierten und sinnentleerten Floskel mutiert ist, schauen wir uns besser ganz genau an, worauf sich geeinigt wurde.


Was bringt der Koalitionsvertrag?


Viel Schatten und wenig Licht. Deutschland wird menschenfeindlicher. Besonders menschenfeindlich wird es im Bereich Migration: Es wird Grenzkontrollen und Zurückweisungen geben und obwohl zeitlich unbegrenzte Kontrollen als auch direkte Zurückweisungen gegen EU-Regeln verstoßen, will Schwarz-Rot sie trotzdem einführen.3 Freiwillige Aufnahmeprogramme, die zugesagt wurden, werden beendet, der Familiennachzug wird ausgesetzt – obwohl Studien zeigen, wie wichtig der Familiennachzug für das Gelingen der Integration ist4. Man hat vor, nach Afghanistan und Syrien abzuschieben und will mehr Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklären. Von Plänen für ernstgemeinte Integrationsmaßnahmen keine Spur, im Gegenteil: Die frühestmögliche Einbürgerung wird nach 5 statt nach 3 Jahren stattfinden, Bezahlkarten werden deutschlandweit eingeführt und Ukrainer*innen werden vom Bürgergeld ausgeschlossen. Überhaupt soll es nicht mehr Bürgergeld heißen. Am Ende käme noch jemand auf die Idee, es gäbe etwas umsonst. Deshalb heißt Bürgergeld auch wieder Grundsicherung und kann mit vollständigem Leistungsentzug sanktioniert werden. Für ein menschenwürdiges Leben soll man gefälligst etwas vorweisen, auch wenn »menschenwürdig« an dieser und allen anderen Stellen ja eigentlich bedeutet, dass es genau auf das – Vorweisen oder Leistung – gerade nicht ankommen sollte. Oder wie Friedrich Merz es formuliert: »Wir haben das Wort Eigenverantwortung im Vertrag stehen.« Auch der Satz im Koalitionsvertrag »Die Anreize, in die Sozialsysteme einzuwandern, müssen deutlich reduziert werden« ist einfach menschenverachtend und blendet Ursachen von Flucht und Einwanderung komplett aus.


Das Lieferkettengesetz wird abgeschafft, eine dreimonatige Vorratsdatenspeicherung eingeführt und Deutschland will Autoland bleiben. Von Mobilitätswende oder der Notwendigkeit, dem Individualverkehr eine brauchbare Alternative entgegenzusetzen, kann keine Rede sein. Eine dringend nötige politische Strategie zur Bekämpfung von Rechtsextremismus? Ist im Koalitionsvertrag nicht zu finden.5 Und das, während die AfD so erfolgreich ist wie noch nie. Wir müssen das an dieser Stelle wiederholen: Die größte Gefahr für unsere Demokratie ist Rechtsextremismus und darauf wird im Koalitionsvertrag nicht eingegangen. Uns fehlen die Worte dafür, wie verantwortungslos das ist.

Wichtige Punkte in der Sozialpolitik werden vage gehalten, in Kommissionen versenkt6 oder gar nicht erst erwähnt. So sieht es zum Beispiel auch in dieser Legislaturperiode nicht danach aus, als würde Deutschland endlich eine angemessene Gesetzgebung zum Thema Sterbehilfe auf den Weg bringen, obwohl das Verfassungsgericht schon vor 5 Jahren geurteilt hat, dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. Doch auch die künftige Regierung scheint sich davor zu drücken, das in einem Gesetz angemessen zu regeln. Hier wird keine »Verantwortung für Deutschland« übernommen, hier wird sich weggeduckt, wie in vielen anderen Bereichen auch.


Hattet ihr nicht gerade etwas von Licht gesagt?!


Stimmt, hatten wir tatsächlich. Es soll zum Beispiel härtere Strafen für »Unterhaltsschuldner« (Zitat aus dem Koalitionsvertrag) geben. Die ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie soll weitergeführt und »gleichstellungspolitische Akteure« (ja, auch das steht so im Koalitionsvertrag) weiterhin unterstützt werden. Auch wenn wir die SPD in vielen Fällen kritisieren – hier hat sie der CDU/CSU klar ein Zugeständnis zur Unterstützung progressiver, zivilgesellschaftlicher Verbände abgerungen. Darüber hinaus will man den Mutterschutz auf Selbstständige ausweiten und »gleichen Lohn für gleiche Arbeit für Frauen und Männer bis 2030 verwirklichen« (Zitat aus dem Koalitionsvertrag). Das geht in die richtige Richtung, finden wir – und schließen uns der Bewertung des Frauenrats an.7

Das Elterngeld wird nicht gestrichen und soll angehoben werden, eine Anhebung, die allerdings nur das ausgleicht, was seit Jahren versäumt wurde. Wichtige Einschränkung: Die Anhebung steht – wie fast alles, was sich familienpolitisch im Koalitionsvertrag findet – unter einem Finanzierungsvorbehalt.8


Und dann setzt auch schon die Dämmerung ein. So kann man es positiv bewerten, dass das von CDU/CSU ungeliebte Selbstbestimmungsgesetz nicht sofort im Papierkorb landet, muss aber gleichzeitig zur Kenntnis nehmen, dass es wohl 2026 in seiner jetzigen Form fallen und dies auch noch ernsthaft mit einem »wirksamen Schutz von Frauen« (Zitat aus dem Koalitionsvertrag) begründet wird. Überhaupt zeigt sich bei diesem Thema viel »Ahnungslosigkeit und Ignoranz« wie die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit zu Recht anmerkt.9

Die Frauenhauskoordinierung ist ebenfalls unzufrieden mit dem Koalitionsvertrag. Punktuelle Maßnahmen, die Schlimmeres verhindern, gäbe es zwar, aber grundlegende Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt werde kaum ernsthaft adressiert.10 Auch da stimmen wir aus vollem Herzen zu!
Zusammengefasst heißt das, dass es einige Maßnahmen geben soll, vieles aber schon im Ansatz nicht ausreichend ist.


Und dann sind da noch all die Dinge, die diese Koalition überhaupt nicht in Angriff nehmen will. (Oh, da fällt uns ein Name für die Koalition ein, Merz suchte doch einen: »Weiter so 2.0, aber mit mehr Wirtschaftsliberalismus und weniger Sozialpolitik«- oder Ws2.0ammWuwS-Koalition.) Für das Aufzählen der Dinge, die auf der Strecke bleiben, würden drei Newsletter nicht ausreichen. Armutsbekämpfung, Kinderrechte, Rentenfinanzierung, Kranken- und Pflegeversicherungsreform, Femizidprävention, Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ... Okay, wir hören ja schon auf.


Was machen wir jetzt damit?


Nichts beschönigen, aber auch nicht verzagen. Dieser Koalitionsvertrag ist über weite Strecken ein Armutszeugnis – die kommende Regierung scheint sich gar nicht erst die Frage gestellt zu haben, wie wir als Gesellschaft gerechter werden können. Statt militärischen Begriffen wie »OPLAN« oder Wirtschaftsfiktionen wie »Deutschland-Stack« hätten wir uns unmissverständliche Bekenntnisse dazu gewünscht, wie ganz konkret Verantwortung übernommen wird. Verantwortung bedeutet nämlich auch dem Wortsinn nach, dass Antworten gegeben werden müssen und keine Ausflüchte und Abweisungen. Die Koalition spricht von »Verantwortung«, weigert sich aber, sie zu übernehmen. Nach der Lektüre des Koalitionsvertrags fühlen wir uns genauso, wie es die großartige Jagoda Marinić formuliert hat: Wir haben ein bisschen Heimweh nach dem Land, das wir hätten sein können.11

Nicht nur nach dem Land, sondern auch nach der Deutlichkeit, mit der man sich hätte positionieren können. Nach der in Absichten und Handlungen gegossenen Einladung, wirklich alle mitzunehmen, die sich hier zugehörig fühlen, und mit ganzer Kraft gemeinsam das Beste draus zu machen. Nach der unmissverständlichen Abgrenzung zu jedweder Form von Faschismus.


Aber mit dem, was nun vorgelegt wurde, werden wir arbeiten müssen. Und können. Mutig und unverzagt. Und auch wenn uns das Ergebnis nicht gefällt, müssen wir es nicht einfach so hinnehmen. Wir können uns zusammentun und gemeinsam all die Lücken und Ungerechtigkeiten mit Widerstand und Alternativen füllen. Mit Texten und Kampagnen. Mit »Das funktioniert so nicht, lasst es uns besser machen«. Und wie immer: mit euch, unserer PINKSTINKS-Bande!

Ganz liebe Grüße

Euer PINKSTINKS-Wahl-Team

P.S.: Das, Ihr Lieben, war unsere letzte Wahlbeobachter*in-Ausgabe. Es war uns – Nils und Ulrike – eine Ehre! Wir haben die heiße Phase des Wahlkampfs, die Wahl, die Koalitionsgespräche und zum Schluss die Einigung aus feministischer Perspektive begleitet. Das war für uns bei PINKSTINKS ein kleiner Kraftakt, weil das gleich zwei Menschen aus unserem kleinen Team gebunden hat. Reagieren auf aktuelle Themen und aktuelles Schreiben ist immer aufwändiger, als mit Themen zu arbeiten, die geplant werden können. Doch an euren vielen tollen und konstruktiven Nachrichten (Danke! 💜) haben wir gemerkt, dass wir mit den Wahlbeobachter*in-Newslettern einen Nerv getroffen oder gar eine Lücke gefüllt haben. Deswegen haben wir eine gute Nachricht: Aus den Wahlbeobachter*in-Ausgaben werden Politikbeobachter*in-Ausgaben. Allerdings etwas geplanter und einen kleinen Ticken weniger aktuell: Unser Mini-Politik-Team wird die Politikbeobachter*in-Newsletter immer am ersten Mittwoch eines Monats versenden. Und darin greifen wir entweder ein hochaktuelles oder ein längerfristiges Thema auf. Also: Wir freuen uns auf den ersten Politikbeobachter*in-Newsletter Anfang Mai. Um diese Arbeit machen zu können, sind wir auf eure Unterstützung angewiesen!


P.P.S.: Und noch eine gute Nachricht: Unsere Gründerin Stevie Schmiedel bekommt das BUNDESVERDIENSTKREUZ! Ist das nicht fantastisch?!? Wir freuen uns soooo sehr für sie – und gratulieren aus tiefstem Herzen. ❤️ Die Ehrung für Stevie ist sowas von verdient! Am Donnerstag wird ihr der Orden von Hamburgs Zweiter Bürgermeisterin Katharina Fegebank verliehen. In der Begründung heißt es: »Insbesondere mit ‘Pinkstinks’ hat sie eine Pionierleistung mit zum Teil weitreichender Wirkung erbracht und zum Empowerment von Mädchen (und auch Jungen) beigetragen.« 😍 Das ist einfach nur großartigst und wir sind vollkommen gerührt über diese besondere Ehrung für Stevie und PINKSTINKS. Wer hätte das gedacht? Lasst uns also die Hoffnung nicht aufgeben, dass gute Dinge passieren!

Quellen:

1: Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2025 als pdf (besucht am 15.04.2025)

2: zdf.de: »Schwarz-roter Koalitionsvertrag: ‘Politik pur’ und schwer verständlich« vom 12.04.2025 (besucht am 15.04.2025)

3: tagesschau.de: »Koalitionsvertrag: Sind die Migrationspläne umsetzbar?« vom 10.04.2025 (besucht am 16.04.2025)

4: mediendienst-integration.de: »Was bedeutet ein Stopp des Familiennachzugs?« vom 09.04.2025 (besucht am 16.04.2025)

5: taz.de: »Demokratieförderung im Koalitionsvertrag: Zivilgesellschaft bleibt misstrauisch« vom 10.04.2025 (besucht am 15.04.2025)

6: taz.de: »Schwarz-roter Koalitionsvertrag: Kommissionen als Ritualobjekte« vom 12.04.2025 (besucht am 15.04.2025)

7: Pressemitteilung des Frauenrats: »Koalitionsvertrag erkennt gleichstellungspolitische Verantwortung« vom 11.04.2025 (besucht am 16.04.2025)

8: tagesschau.de: »Koalitionsvertrag: Was Union und SPD für Familien planen« vom 12.04.2025 (besucht am 16.04.2025)

9: Pressemitteilung der DGTI: »Koalitionsvertrag 2025: Schlingerkurs« vom 11.04.2025 (besucht am 15.04.2025)

10: Pressemitteilung der FHK: »FHK kritisiert Koalitionsvertrag« vom 10.04.2025 (besucht am 15.04.2025)

11: Posting von Jagoda Marinić auf BlueSky am 09.04.2025 um 23:02 Uhr (besucht am 15.04.2025)

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