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Es gibt nur eine Wahrheit! »Wie kann man so etwas behaupten?« werdet Ihr fragen. Aber was ist, wenn die eine Wahrheit lautet: Es gibt unendlich viele Wahrheiten? Sicher, dies ist ein Paradox. Stellen wir uns vor, die eine Wahrheit sei ein gewaltiges Bergmassiv. All die Wahrheitssucher wandern um diesen Berg herum, wandern auf seinen weglosen Pfaden, klettern auf seine Gipfel. Da wird jeder seine Wahrheiten finden, im Weitergehen vielleicht neue Wahrheiten und immer wieder neue Ausblicke und Einblicke. Die Wahrheit, der wir dort begegnen, mag überwältigend sein; so überwältigend vielleicht, dass wir wie Moses vom Berg herabsteigen und die eine Wahrheit verkünden. Oder wir werden bescheiden und erkennen, dass mit jeder Biegung des Pfades neue Wahrheiten aufblitzen. Und wenn wir abends im Feuerschein mit anderen Wanderern beisammensitzen und uns unsere Wahrheiten erzählen, werden wir wohl demütig: So groß uns unsere eigene Wahrheit erschien, so winzig kommt sie uns nun vor angesichts der einen Wahrheit des Berges unter dem gewaltigen Sternenzelt. Dann beginnen wir vielleicht, wie ein Berg zu denken. Mein Eindruck heute ist, dass viel zu wenige die beschwerlichen Wege der Wahrheitssuche auf sich nehmen. Sie geben sich damit zufrieden, die Wahrheiten zu übernehmen und weiterzuverbreiten, die andere von ihrer Bergwanderung mitgebracht haben und nun voll Überzeugung verkünden. Oder, schlimmer noch, die sie selbst aus zweiter Hand von anderen Bergwanderern übernommen haben. Auf Wahrheitssuche begibt man sich in ein pfadloses Land. Doch darf man dankbar sein, auf andere zu treffen, die dieses Land selbst schon durchwandert haben und Orientierung geben können. Eine von diesen ist für mich Dolores LaChapelle, die viele Sommer im Hochgebirge verbracht und in ihren geliebten Bergen Tai-Chi geübt und mit anderen Menschen Rituale gefeiert hat. In ihrem Buch »Weisheit der Erde« nimmt sie uns mit auf ihre Erkundungen: zu den weit Gewanderten wie Gregory Bateson, Aldo Leopold, Martin Heidegger oder Jiddu Krishnamurti; zu den Ursprüngen der Verkündungs- und Mysterienreligionen; und zu den vier Bergen unseres menschlichen Lebens: Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter und Tod. Nun, ganz gewiss findet Ihr die eine Wahrheit auch in diesem Buch nicht. Aber Ihr werdet neue Einsichten und Ausblicke gewinnen, besonders dann, wenn Ihr zum Lesen in die Berge oder an einen Wasserfall oder ans Meer geht: dorthin, wo die Weisheit der Erde sich Euch –vielleicht mit Hilfe der gedruckten Wörter – vermitteln kann.
Jedenfalls ist mein Tip für Euch in dieser Zeit: Hört nicht auf die »Wahrheitsverkünder«, die ihre Wahrheiten aus zweiter oder dritter Hand haben, sondern lieber auf »lächelnde Menschen mit schlechtem Ruf«. Denn oft sind gerade sie es, die einen flüchtigen Blick auf die eine Wahrheit haben werfen können.
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