Die Erde in der Krise & die Sexualität ANDREAS LENTZ
DIE GESCHICHTE unserer westlichen Zivilisation, wie wir sie seit der Zeit des Römischen Weltreiches ganz gut überblicken können, zeigt uns zwei große Linien: - eine fortschreitende Entwicklung mechanischer Apparaturen mit damit einhergehender Naturentfremdung des Menschen;
- eine stete Zunahme der Anzahl der Menschen.
Heute ist die menschliche Bevölkerung auf dem ganzen Erdball auf mehr als unvorstellbare sieben Milliarden gewachsen, und von diesen leben einerseits die meisten in großer Armut und viele hungern, andererseits haben viele Hundert Millionen Menschen dank komplexester mechanischer Geräte einen in der Menschheitsgeschichte bisher unerreichten Komfort.
Zugleich kommen in Gesellschaften mit westlicher Zivilisation (und dazu gehören inzwischen auch Teile vieler nicht-westlicher Völker) in immer stärkerem Maße psychische Erkrankungen vor; das auf Wachstum gegründete Wirtschaftssystem erweist sich als brüchig, und die Unterschiede in Hinblick auf materiellen Wohlstand vergrößern sich stetig. Zugleich ist unsere gesamte Biosphäre von großen Zerstörungen und Ungleichgewichten betroffen. Dies sind nur ein paar Punkte, um die globalen Probleme von heute zu beschreiben. Doch warum bekommen wir diese Probleme, die uns doch nicht neu sind, nicht in den Griff?
Meine Antwort darauf ist: Weil wir elementare Wahrheiten ausblenden und nicht mit bedenken, und wenn doch, dann nur abstrakt mit einem Wissen, das ohne Weisheit und ohne Liebe ist. Zu den elementaren Wahrheiten gehört, dass wir als Menschen eine Spezies darstellen, eine von Myriaden von Lebewesenformen, die auf der Erde leben – und dass wir als Spezies, als Menschengruppe und als Einzelwesen »Mensch« eingebunden sind in einen evolutionären Prozess und in ein gewaltiges, jedes Vorstellungsvermögen sprengendes Lebensnetz – und zwar nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und geistig. Von dieser Grundlage aus entwickelte die Tiefenökologie, die sich in den 1970er Jahren formierte und von Dolores LaChapelle maßgeblich beeinflusst wurde, die gedanklichen Werkzeuge, um Lösungen für die Probleme der heutigen Zeit zu finden. Diese gedanklichen Werkzeuge müssen die elementaren Tatsachen unserer ökologischen Wirklichkeit mit einbeziehen, wenn sie etwas taugen sollen.
Zu diesen elementaren Tatsachen gehört, wie Dolores LaChapelle es ausdrückt, »dass die Menschheit allein keine Kinder zeugen kann. Vielmehr ist es die ganze lebendige Umwelt, die das Kind erzeugt und es am Leben erhält: die Luft, der Boden und die Pflanzen und Tiere der unmittelbaren Umgebung.« Doch der Mensch lebt nicht von Brot allein, also ist es nicht nur die materielle Grundlage, die uns unseren Platz auf der Erde gewährt, sondern auch die seelisch-geistige, oder, wie der von mir immer gerne wieder zitierte Jaques Perrin sagt: »Es gibt nichts Unmenschlicheres als eine Welt, in der es nur noch Menschen gäbe.«
So ist nicht nur der Hunger Ausdruck dessen, dass das Land die dort lebenden Menschen nicht ernähren kann (Faktor Bevölkerungswachstum), sondern die Gewaltausbrüche (spiegelbildlich zur Gier an den Börsen und der daraus resultierenden Wirtschaftskrise) sind Ausdruck der Abspaltung des menschlichen Bewusstseins vom Bewusstsein des großen Ganzen, welches das Nicht-Menschliche einschließt.
Sexualität schließlich hat mit beidem zu tun: zum einen mit Nachkommenschaft (also wie viele Menschen kommen auf wie viele natürliche Ressourcen), zum anderen mit der Frage, ob Sex uns mit dem großen Ganzen verbindet. Denn Sexualität ist ja etwas, das uns elementar mit dem Strom allen Lebens verbindet: Sie ist biologisch Ursprung unserer persönlichen Existenz und unser Bindeglied zu den nachfolgenden Generationen und bewusstseinsmäßig eine Auflösung der Dualität, ein Verschmelzen mit allem Leben und allem Bewusstsein.
Das Buch »Sexualität – Der vergessene Schlüssel zur Versöhnung von Mensch und Erde« ist ein grandioser Werkzeugkasten, der uns viele neue gedankliche Werkzeuge zu einem tieferen Verständnis der heutigen Weltprobleme bietet. Es ist nur eine Frage weniger Generationen, bis unsere heutige Lebensweise die eigenen Grundlagen zerstört haben wird – und es ist eine Frage an unsere Generation, ob wir es als Menschen aus eigener Einsicht und Kraft schaffen, uns als Menschen zurückzunehmen, andere Lebewesen in ihrem Existenzrecht anzuerkennen und uns zu beschränken – oder ob wir dies der Natur und den Mechanismen überlassen, die wir in Gang gesetzt haben.
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