Liebe Freund*innen,
wir sollen mehr arbeiten. Jetzt aber mal wirklich ranklotzen, die Ärmel hochkrempeln und »ins Machen kommen«, wie CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagt. Kanzleramtsminister Thorsten Frei findet, dass wir alle »vor lauter Work-Life-Balance nicht die Arbeit aus dem Blick verlieren« dürfen.1 Sein Chef Friedrich Merz verkündet, dass sich mit Viertagewoche und Work-Life-Balance der Wohlstand dieses Landes nicht erhalten lasse.2 Und der Arbeitgeberpräsident fordert längere Wochenarbeitszeiten, weil in Deutschland zu wenig effizient gearbeitet werde.3
Die Herren wollen also eine gesellschaftliche Debatte über Arbeit anstoßen. Können sie haben! Wir von PINKSTINKS steuern da gerne wichtige Punkte hinzu, die in solchen Debatten erfahrungsgemäß ignoriert werden.
Wer genau soll denn mehr arbeiten?
Wenn jetzt also wieder in die Hände gespuckt werden muss, um wessen Hände handelt es sich dann? Dieses »wir«, von dem hier die Rede ist, ist das gleiche »wir«, auf dessen Rücken in Deutschland gerne Schulden vergemeinschaftet werden. Gewinne dagegen werden individualisiert und privatisiert – ohne an das »wir« zu denken. Denn wenn wohlhabende Politiker*innen, Wirtschaftsbosse und reiche Menschen von »wir« sprechen, dann meinen sie nicht sich selbst. Faul sind immer die anderen. An denen liegt es, dass Deutschland nicht vorankommt. Faul sind auf gar keinen Fall die 800.000 Deutschen, die ausschließlich von dem passiven Einkommen leben können, das durch ihr Vermögen generiert wird.4 Menschen, die Immobilien besitzen, über ein großes Erbe verfügen oder bei überschaubaren Arbeitszeiten gut dotierte Aufsichtsratsposten innehaben, gelten grundsätzlich als fleißig.
Nur diejenigen, die zum (Über-)Leben arbeiten müssen, werden dazu aufgefordert, noch mehr zu arbeiten. Dies geschieht zumeist mit wortgewaltigen Appellen an »unser aller Wohl«, Arbeitsmoral und Verantwortung für gesteigerte Effizienz zur Wohlstandssicherung. Tatsächlich sind derlei Aussagen zumeist wirklichkeitsverzerrend bis verlogen. Wenn sich zum Beispiel der Arbeitgeberpräsident darüber beschwert, dass der Output zu gering sei, dann stimmt das so nicht. Er sagte: »Wenn es uns mit mehr Beschäftigten gelungen ist, genauso viel fertig zu kriegen wie vor 20 Jahren, dann haben wir nicht viel gekonnt.« Das ist sogar eine Lüge: Denn die Produktivität von Arbeitskräften steigt seit der Nachkriegszeit kontinuierlich an. Was seit Ende der 70er Jahre hingegen stagniert, ist die Bezahlung für die geleistete Arbeit.5
Die Generation Z soll mehr arbeiten, wird gefordert. Obwohl sie aller gegenteiliger Behauptungen zum Trotz weder arbeitsscheu noch dauerkrank ist: Es gibt keine nachweisbaren Unterschiede in den Generationen bei der Arbeitsmotivation. Stattdessen ist die Erwerbsbeteiligung bei 20- bis 24-Jährigen auf dem höchsten Stand seit 30 Jahren.6 GenZ arbeitet viel, aber anders. Sie meldet sich nicht lange krank, dafür aber häufiger, weil sie mehr auf sich achtet. Am Ende bleiben nur Vorurteile über »diese faulen jungen Leute«, mit denen Menschen ein schlechtes Gewissen eingeredet wird, damit sie noch mehr arbeiten.
Auch die Alten sollen mehr arbeiten, gerne auch Rentner*innen, wie CDU-Generalsekretär Linnemann fordert.7 Aber bitte nicht mit Kündigungsschutz, weil Unternehmen dann befürchten würden, die alten Menschen »nicht mehr loszuwerden«, wie es der Chefberater von Lars Klingbeil formuliert.8
Und Frauen natürlich. Die sollen möglichst aus der Teilzeit in Vollzeitbeschäftigung gebracht werden, damit es in diesem Land endlich wieder vorangeht. Dass so viele Frauen nicht aus Faulheit in Teilzeit arbeiten, sondern dass das strukturelle Gründe hat, kümmert irgendwie niemanden. Aber dazu unten mehr.
Also: Arme, Alte, Junge und Frauen sollen mehr arbeiten. Parteivorsitzende irgendwie nicht. Manager auch nicht. Und reiche Erben schon gar nicht.
Was heißt eigentlich »arbeiten«?
1,3 Milliarden Überstunden haben Beschäftigte 2023 in Deutschland geleistet, davon waren die Hälfte unbezahlt. Diese Summe entspricht 835.000 Vollzeitstellen.9 2023 war auch das Jahr, in dem abhängig Beschäftigte in Deutschland seit der Wiedervereinigung am meisten gearbeitet haben.10 Gleichzeitig sanken die Arbeitswochenstunden. Und das ist dann auch die rhetorische Peitsche, mit der »wir« zu mehr Arbeit getrieben werden sollen. Aus »Die Deutschen arbeiten zu wenig« wird bei näherer Betrachtung eine statistische Verzerrung durch Teilzeitbeschäftigte. Wenn alle Teilzeitbeschäftigten ihre Arbeit einstellen würden, sähen wir statistisch gesehen beschäftigter aus.11
In Teilzeit sind vor allem Frauen angestellt, weil sie über die Lohnarbeit hinaus womit beschäftigt sind? Ja genau: mit Arbeit. 72 Milliarden Stunden leisten Frauen im Jahr unbezahlte Care-Arbeit. 826 Milliarden Euro hätte man ihnen dafür bei durchschnittlichem Stundenlohn bezahlen müssen. Rechnet man diese unbezahlten Care-Arbeitsstunden und die Lohnarbeitsstunden von Männern und Frauen zusammen, dann arbeiten Erwachsene im Schnitt 44,5 pro Woche, davon 25,5 Stunden unbezahlt.12
Was noch? Ach ja, das Ehrenamt! Knapp 30 Millionen Menschen sind in Deutschland ehrenamtlich tätig. Allein in NRW verrichten Freiwillige 700 Millionen Arbeitsstunden für die Gemeinschaft und sorgen so unbezahlt für den Zusammenhalt der Gesellschaft, der Arbeitgebende bei Durchschnittslohn andernfalls 12,5 Milliarden Euro kosten würde.13 Dabei wird gerne vergessen: Unsere Zivilgesellschaft wird vom Ehrenamt getragen und würde ohne unentgeltliche Arbeit zusammenbrechen.
Doch Care-Arbeit und Ehrenamt, das zählt beides nicht als »Arbeit« für diejenigen, die »Wir müssen mehr arbeiten!« fordern. Denn beides erwirtschaftet keinen Profit.
In Wahrheit arbeiten »wir« nicht zu wenig, »wir« werden dafür aber häufig schlecht oder gar nicht bezahlt.
Warum all die Rufe nach mehr Arbeit?
Arbeit ist ein zutiefst feministisches Thema mit großer gesellschaftlicher Sprengkraft. Wer verrichtet sie? Wie viel (Lebens-)Zeit und Energie muss dafür aufgewendet werden? Wie wird sie entlohnt, welche Art Arbeit ist es wert, entlohnt zu werden und wer bereichert sich daran? Es ist auffällig, dass der Ruf nach mehr Arbeit oft von überbezahlten Männern kommt, die die Care-Arbeit (natürlich unbezahlt!) für ihre Kinder gerne an Frauen abtreten und für die nur das als »Arbeit« zählt, bei dem sie selbst Profit erwirtschaften können. Deshalb laden sie »Arbeit« moralisch auf: Wer arbeitet, soll das nicht als kapitalistischen Erwerbszwang verstehen, sondern als Verpflichtung und selbstverständliches Opfer für das Wohlergehen Deutschlands.
Wer Vermögen besitzt, geerbt hat oder durch bestimmte, genau festgelegte Formen der Arbeit abschöpfbaren Mehrwert generiert, gilt als fleißig, ehrlich und patriotisch. Alle anderen schmarotzen und sollten gefälligst mal ihre »Vollkaskomentalität« überdenken. Und darum müssen diese überbezahlten Männer auch die Vier-Tage-Woche verteufeln, anstatt anzuerkennen, dass dieses Modell sowohl Produktivität und Umsatz als auch die Zufriedenheit bei den Beschäftigten steigert.14 Darüber hinaus fällt wie schon in der Migrationsdebatte auf, wie sehr Menschen nach ihrem angeblichen Nutzwert unterteilt werden. Markierungen als faul, arbeitsscheu und unproduktiv dienen dazu, die Gesellschaft zu spalten und etwaige Kürzungen von Sozialleistungen zu begründen. Wer sich darüber aufregt, dass eine alleinerziehende Mutter in Teilzeit Sozialleistungen bezieht, weil es zum Leben nicht reicht, der bekommt kaum mit, wie sehr sich reiche Menschen aus der Verantwortung ziehen.
Deutschland wird seinen Wohlstand nämlich tatsächlich nicht halten können: Denn mit dem viel beschworenen »Wohlstand«, für den »wir« alle ranklotzen sollen, ist eigentlich nur der Wohlstand der wenigen gemeint, die nach alten, ausbeuterischen Spielregeln Gewinne erwirtschaften wollen. Gewinne, die noch nicht einmal angemessen besteuert werden, obwohl diese Steuern einen echten Wohlstand des Landes – sozialgerechte Versorgung, Infrastruktur, Bildung etc – möglich machen würden. Doch stattdessen ist es der Wohlstand der wenigen, der auf Kosten anderer auf jeden Fall gehalten und vermehrt werden soll. (Überraschung: Reiche werden auch und gerade in Krisenzeiten immer reicher.15)
Damit diese ungerechte Wohlstandsvermehrung weiter funktioniert, muss uns unaufhörlich eingeredet werden, dass »wir« mehr »arbeiten« müssen. Und es braucht Sündenböcke, die als faul und arbeitsunwillig markiert werden, damit wir uns über die aufregen statt über die anmaßenden, verkürzenden und verlogenen Arbeitsappelle reicher Männer. Damit muss Schluss sein. »Wir« arbeiten mehr als genug, »wir« haben nur viel zu wenig davon.
Liebe Freund*innen, lasst uns gemeinsam genau hinschauen, was hier gerade passiert und wie bestimmte Argumente und Fakten instrumentalisiert werden. Wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen – im Gegenteil: Wir müssen eine starke Bande bilden!