Liebe Freund*innen,
es geht weiter mit unseren Politikbeobachter*in-Ausgaben und wir steigen gleich mal voll ein: »CDU plant Wunderheilung für 863.000 Pflegefälle« titelt die »taz«. Darum geht es: Die CDU prüft die ersatzlose Abschaffung des Pflegegrads 1, weil sie den Abbau des Sozialstaates vorantreiben möchte und hierbei glaubt, möglichst geräuschlos vorgehen zu können. Die SPD ist dagegen, der Paritätische Wohlfahrtsverband und viele andere Verbände auch.1 Wir wollen uns heute mit euch anschauen, warum Politik auf dem Rücken von Pflegebedürftigen teuer und eine richtig schlechte Idee ist.
Warum geht es um den Pflegegrad 1 und was ist das überhaupt?
Während es der CDU und den konservativen Kreisen der SPD in den Fingern juckt, das Sondervermögen für Klientelgeschenke zu verplempern, sollen »wir« gleichzeitig mehr arbeiten und sparen.2 Also vor allem das »wir«, das keine finanziellen Rücklagen bilden kann oder von Armut betroffen ist. Dafür möchte vor allem die CDU Hand an den Sozialstaat legen und schürt unter Friedrich Merz seit Monaten den Sozialneid innerhalb der Gesellschaft. Mit dem Pflegegrad 1 glaubt man jetzt, ein Ziel ausgemacht zu haben, um das es den Menschen nicht allzu schade sein wird, weil es sich vermeintlich um eine überschaubare finanzielle Unterstützung handelt. 1,8 Milliarden Euro sollen eingespart werden können, indem man besagten 863.000 Menschen 131 Euro im Monat und beantragbare Zuschüsse zum barrierefreien Umbau einer Wohnung streicht.3
Dabei gibt es den Pflegegrad 1 noch gar nicht so lange. Erst 2017 wurde er eingeführt, als Teil des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes unter dem Kabinett Merkel III, das 2016 in Kraft trat. Der damalige CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe sprach sich für eine »Unterstützung bereits am Anfang der Pflegebedürftigkeit« aus und von »Solidarität in der Pflege«, die »Selbstbestimmung und Teilhabe« ermöglichen soll.4 Nicht einmal zehn Jahre später scheint es, als würde sich die Merz-CDU bei ihren politischen Vorhaben von der Lobby privater Krankenkassen und Arbeitgeberverbände inspirieren lassen, die finden, dass »der Zuschuss zu Mitnahmeeffekten einlädt«5 und vollständig auf kostenlose Maßnahmen setzen, weil keine »echte Pflegebedürftigkeit« vorliegt. Muss man wissen: Einer beginnenden Demenz oder Arthritis sollte man nicht finanziell und schon gar nicht durch Pflege begegnen. Bauliche Maßnahmen zur Barrierefreiheit sind oft einfach nicht nötig, wer braucht schon gesellschaftliche Teilhabe? Am Ende entsteht noch der Eindruck, wir würden uns umeinander kümmern und Pflegebedürftige sowie deren Angehörige nicht allein lassen.
Wieso ist die Abschaffung eine schlechte Idee?
Dass Pflege teuer ist, daran besteht überhaupt kein Zweifel. In einer überalternden Gesellschaft, in der zu viele Menschen obendrein Migration als »Mutter aller Probleme definieren«, wird es schwierig bis unmöglich, einen Generationenvertrag aufrechtzuerhalten, durch den gesündere Menschen über Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeiträge Menschen unterstützen, die auf medizinische Betreuung und Pflege angewiesen sind. Auch an der Reformbedürftigkeit des Pflegesystems führt kein Weg vorbei. Wer Pflegekräfte nicht bis zur Erschöpfung und Kündigung überlasten will, ihre Arbeit nicht mit der Stechuhr durchtakten möchte und von der Sinnhaftigkeit von »Selbstbestimmung und Teilhabe« überzeugt ist, der muss sich das Ganze auch etwas kosten lassen. Doch für all das braucht es eine echte Reform, die entlastet, Pflege angemessen bezahlt und neu ordnet. In dieser Gemengelage sind die Pläne der CDU zur Abschaffung des Pflegegrads 1 zutiefst unsolidarisch. Und zwar nicht nur, weil sie Betroffenen ihre Pflegebedürftigkeit abspricht und ihre gesellschaftlichen Partizipationsrechte mit Füßen tritt, sondern auch weil sie pflegende Angehörige ignoriert und Beitragszahlende entsolidarisiert. Anstatt ein positives Narrativ von Verantwortung und Miteinander zu etablieren, wird mit Begriffen wie »Mitnahmeeffekte« gesellschaftliche Spaltung betrieben.
Das wird uns alle teuer zu stehen kommen. Und zwar nicht nur mit Blick auf die Solidarität, sondern auch finanziell. 1,8 Milliarden sollen also eingespart werden können? Doch welche Kosten entstehen tatsächlich, wenn Wohnungen künftig nicht barrierefrei umgebaut werden und Menschen dadurch schneller aus der gesellschaftlichen Teilhabe gedrängt werden – sie dann früher in Pflegeheime müssen, schneller depressiv und krank werden? Oder das Geld für einen Hausnotruf nicht mehr übernommen wird und dadurch mehr Einsätze von Rettungskräften und invasive medizinische Maßnahmen nötig sind? Wie viele Milliarden wird eine entsolidarisierte Gesellschaft aufwenden müssen, in der wir pflegende Angehörige nicht ausreichend unterstützen und Pflegekräfte nicht ausreichend wertschätzen und bezahlen? Wie hoch ist der Preis?
Warum ist das ein feministisches Thema?
Kümmern und Pflege waren und sind zutiefst feministische Themen. Wer Gleichberechtigung will, kommt um eine Care-Revolution und eine Aufwertung der Sorgearbeit nicht herum.6 Kümmern, Sorgen und sich in Solidarität verantwortlich zu zeigen, sind die Kernaufgaben menschlicher Gesellschaften. Und die stärkt man ganz sicher nicht mit Kürzungen, Streichungen, respektloser Entsolidarisierung und einer Zwei-Klassen-Medizin.7 Die Vorstellung, dass man sich Kümmern leisten können muss, ist nicht nur falsch, sondern zutiefst antifeministisch. In Wahrheit müssen wir uns kümmern, um überhaupt irgendetwas anderes leisten zu können. Und zwar nachhaltig. Also nicht im Sinne von »Hey, lasst uns doch mal 1,8 Milliarden mit Entsolidarierungsmaßnahmen einsparen, um die Folgekosten kümmert sich dann sicher irgendjemand anderes«, sondern im Sinne von »Wie können wir als Gesellschaft gelingen und Teilhabe ermöglichen?«.
Und natürlich ist es auch deshalb ein feministisches Thema, weil es am Ende vor allem Frauen ausbaden müssen. Drei von vier pflegenden Angehörigen sind Frauen8, die mit einer solchen Streichung einmal mehr allein gelassen und in ihren pflegerischen Tätigkeiten entwertet werden. Es sind also vor allem Frauen, die innerhalb des Pflegegrads 1 im Monat 131 Euro zur Verfügung haben, um eine pflegebedürftige Person zu waschen, zu duschen, für sie einzukaufen und mit ihr spazieren zu gehen. 131 Euro im Monat, um all die niedrigschwelligen Dinge zu leisten, die dazu beitragen, dass die pflegebedürftige Person erst sehr viel später auf Pflegeeinrichtungen angewiesen sein wird. Es sind also vor allem pflegende Frauen, denen mit diesem Vorschlag das Geld gestrichen würde.9 Es ist, wie die Autorin Berit Glanz ganz richtig feststellt, vollkommen klar, »wer den unbezahlten Sorgearbeitsaufwand übernehmen wird und damit wieder in traditionelle Rollenverhältnisse gedrängt werden soll«.10
Die Streichung des Pflegegrads 1 ist also kein Schritt in die Zukunft. Es ist noch nicht mal ein richtiger Schritt auf dem Weg in einen konsolidierteren Haushalt, weil dadurch an anderen Posten viel höhere Kosten entstehen werden. Es ist eine kurzsichtige Entsolidierungsmaßnahme, die nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern viele andere Menschen sehr teuer zu stehen kommen würde.
Liebe Freund*innen, passt auf euch und eure Lieben auf, so gut ihr könnt. Und wählt bei jeder Gelegenheit eine Politik, die euch dabei bestmöglich unterstützt.