Liebe Freund*innen,
Friedrich Merz ist zum 10. Bundeskanzler Deutschlands gewählt worden – zwar überraschenderweise nicht im ersten Wahlgang, aber im zweiten hat’s ja geklappt. Und wie in funktionierenden Demokratien üblich, versichert Merz als neuer Amtsinhaber nach einem Machtwechsel, jetzt im Sinne aller herrschen zu wollen. Er wisse, dass er nun eine andere Aufgabe habe und »der Bundeskanzler für ganz Deutschland sein muss und sein will«.1
Aber was genau bedeutet das eigentlich bei einem Mann wie Merz, der in der Vergangenheit vor allem durch Nähe zur Wirtschaft und Lobbyarbeit aufgefallen ist?
Für wen wird Friedrich Merz Kanzler sein?
In erster Linie für sich selbst. Auch wenn der Koalitionsvertrag den staatstragenden Titel »Verantwortung für Deutschland« trägt und sich ein langjähriger Freund von Merz damit zitieren lässt, dass der gute Friedrich früher »wesentlich arroganter« gewesen sei.2
Im reifen Altern von 69 Jahren übernimmt jemand das wichtigste Regierungsamt, der noch nie einer Regierung angehört hat, und dieser Jemand will es damit all denen zeigen (Grüße gehen raus an Angela Merkel), die ihm dieses Amt nicht zugetraut haben oder andere Menschen für geeigneter halten. Friedrich Merz ist also auch und gerade deshalb Kanzler geworden, weil Friedrich Merz findet, dass Friedrich Merz das schon lange zusteht und Friedrich Merz das richtig toll machen wird, was Friedrich Merz im Übrigen schon immer gewusst hat.
Er reiht sich damit in die Riege vorrangig männlicher Politiker ein, denen eine zentrale politische Kategorie vollständig fehlt: Demut. Und zwar nicht diese floskelhafte »Demut«, die Politker*innen gerne bemühen, wenn sie davon sprechen, ihrem Land dienen zu wollen. Sondern die Sorte Demut, die einem klarmacht, dass man immer auch von anderen zum Erfolg getragen wurde, gewisse Dinge nicht beherrscht und über bestimmte Expertisen nicht verfügt. Man kann die Tatsache, dass Friedrich Merz auch nach Rückschlägen immer wieder nach der Macht gegriffen hat, natürlich auch als Beharrlichkeit interpretieren. Als Kurshalten im Angesicht des Sturms. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewertet Merz das genau so.
Aber der Multimillionär Friedrich Merz sieht sich auch der »gehobenen Mittelschicht« zugehörig3 und glaubt über ausgewiesene Wirtschaftskompetenz zu verfügen, während er bei der weltgrößten Fondsgesellschaft Blackrock lediglich als Cheflobbyist angestellt war.4 Der Mann, der dem obdachlosen Finder seines Laptops als Dank für die Rückgabe sein Buch über »das Ende der Wohlstandsillusion« zukommen lässt5, die Höhe seiner Spende an kranke Kinder von den Umfragewerten für seine Partei abhängig macht6 und anderen gerne erzählt, dass sie mit nur 5 Euro am Tag reich werden können, während sie zugleich den Gürtel sehr viel enger schnallen sollen7, pflegt ein bestenfalls als merkwürdig zu beschreibendes Verhältnis zur Realität. Dieser Mann hält nicht Kurs, sondern verbeißt sich stur in Dinge, weil er glaubt, sie verdient zu haben. Und jetzt hat Merz es verdient, Kanzler zu sein – zumindest in seiner Welt.
Wer wird von Merz profitieren?
In zweiter Linie wird sich Merz als Kanzler um die Seinen kümmern. Also um wirtschaftsnahe weiße Boomermänner, die »fleißig« statt »privilegiert« sagen und »normal« statt »hegemonial«. Der »Mann der Großkonzerne«, wie ihn das Recherchenetzwerk Correctiv bezeichnet, hat schon früh dafür gesorgt, dass sich Forderungen der Chemie- und Metallindustrie beinahe wortgleich im Wahlprogramm der CDU wiederfinden.8 Abkehr vom Verbrenner-Aus, Steuererleichterungen für Reiche und eine »maximal pragmatische Weiterentwicklung von EU-Regularien« sollen dazu führen, dass die Wirtschaft so viel Beinfreiheit wie möglich bekommt. Sein erklärtes Ziel dabei ist, Deutschland als Exportnation wieder in so prosperierende Gefilde zurückzuführen, dass die Menschen statt AfD künftig CDU wählen.
Das tatsächliche Ziel besteht jedoch eher dahin, Deutschland in ein obskures Früher zurückzuführen, in dem die Welt noch in Ordnung war, Amerika der große Bruder und sich Wirtschaftsinteressen nicht dem Umweltschutz zu beugen hatten.9 Doch: Es gibt keinen Weg dorthin zurück. Deutschland hat seinen »Wohlstand« mit Umverteilung von Arm zu Reich erkauft, mit maroder Infrastruktur und Umweltzerstörung. Und damit soll es jetzt weitergehen. Merz wird für diejenigen Kanzler sein, die statt auf notwendige Transformationen und nachhaltige Innovationen auf Ertragswirtschaft mit verdeckten Kosten, verschleppten Problemen und verunsichtbarten Missständen setzt. Klar, wenn wir den Sozialstaat zurückbauen, können mehr Gewinne erwirtschaftet und gegebenenfalls mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir bezahlen das dann eben einfach mit Kinderarmut, fehlender Gewaltprävention und Partizipationsabbau. Um die Sündenböcke für diesen Handel kann sich dann ja ein CSU-Innenminister kümmern. Wie früher eben. Um es kurz zu machen: Fans des fossilen Patriarchats mit turbokapitalistischem Einschlag und rassistischen Ressentiments dürfen sich freuen. Alle anderen nicht.
Für wen wird Merz nicht Kanzler sein?
Für Frauen.10 Der Paragraf 218 wird aller Voraussicht nach nicht angetastet – das Zeitfenster, das während der Ampelkoalition kurz offen war, hat sich geschlossen. Frauenhäuser bleiben unterfinanziert und NGOs, die sich für Gleichberechtigung, Feminismus und Partizipation stark machen, bleiben verdächtig.
Für Kinder, deren Rechte vermutlich nicht in das Grundgesetz aufgenommen werden.
Für von Armut betroffene Menschen, deren Existenz nur als Zumutung für die Gesellschaft definiert wird, statt als Aufforderung, besser, gerechter und mitmenschlicher miteinander umzugehen.
Für Menschen mit internationaler Familiengeschichte, deren Aufenthaltsrecht an Nützlichkeitserwägungen gekoppelt wird statt an gesetzliche und moralische Verpflichtungen.
Für queere Menschen, deren Identität ihm laut eigener Aussage egal ist, solange sie sich ihm nicht nähern.11
Für alle Menschen, die Diskriminierung erfahren.
Liebe Freund*innen, es geht uns nicht darum, die Kanzlerschaft von Friedrich Merz zu verdammen, bevor er sie gestalten konnte. Es geht uns darum aufzuzeigen, wer aufgrund seiner Aussagen und seiner Politik den Preis für diese Kanzlerschaft bezahlen wird. Merz wird Kanzler all derer sein, die sich aufgrund ihrer Macht und ihres Reichtums am erfolgreichsten dagegen zur Wehr setzen können, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Allen anderen bleibt nur, im Rahmen ihrer Möglichkeiten – auf der Straße, per Petition, per Kontaktaufnahme mit Abgeordneten, per Spenden für Organisationen –, eine andere, eine bessere Politik zu fordern, sie zu ermöglichen, zu finanzieren oder selbst zu gestalten. Lasst uns das gemeinsam tun!