Subject: Konstantin Wecker: Andere Zeiten, andere Sitten?

*** Politikbeobachter*in ***

Politikbeobachter*in



Liebe Freund*innen,


vielleicht habt ihr es aus der Presse mitbekommen: Der Liedermacher Konstantin Wecker soll vor einiger Zeit mit 63 eine »Beziehung« mit einer damals 15-jährigen Schülerin gehabt haben.1 Die »Süddeutsche Zeitung« hat dazu einen langen Artikel über Machtmissbrauch, Moral und die Folgeschäden für die Betroffene veröffentlicht.2 Wir wollen diesen Fall heute zum Anlass nehmen, um einen der dunkelsten Gemeinplätze zu beleuchten, auf dem sich die Gesellschaft verabredet, um ihre Fahrlässigkeit und Ignoranz zu rechtfertigen: »Andere Zeiten, andere Sitten.« – »Wir haben das ja nicht gewusst.« – »Er war ein Kind seiner Zeit.« – »Man muss auch den Kontext sehen.« – »Das war eben so.«

Nein, war es nicht. Und es wird Zeit, darüber zu reden.

Hätten wir das nicht wissen müssen?


Es geht nicht nur um alternde Männer, die (sexuelle) Beziehungen mit Minderjährigen hatten. Also um den 26-jährigen Elvis Presley und die 14-jährige Priscilla.3 Oder um David Bowie, für dessen »Beziehung« mit einer Minderjährigen die Bild-Zeitung 2016 den Untertitel »Sie war zarte 15 Jahre alt, er ein Star« wählte.4 Um die Rolling Stones, Charlie Chaplin, Don Johnson oder eben Konstantin Wecker. Es geht auch darum, mit welcher Häme und Wucht Frauen in den 1990ern und 2000ern für ihre Körper beschämt wurden.

War es wirklich in Ordnung und »der Zeit geschuldet«, alle Frauen als fett zu bezeichnen, die nicht superdünn waren, oder der Schauspielerin Renée Zellweger ein »Schwabbel-Ich« zu attestieren, wie es die Zeitschrift »Gala« noch 2009 tat?5 

Konnten wir es nicht besser wissen, als wir vor 30 Jahren rassistische Comedyprogramme wie »Erkan und Stefan« oder Fips Asmussen lustig fanden, inklusive Blackfacing und weißer Typen, die auf dem Rücken mitgrantisierter Männer Stereotype auffahren, während den meisten Comedians mit internationaler Familiengeschichte der Weg auf die großen Bühnen des Landes verbaut war? Oder ist es nicht vielmehr so, wie der Comedian Bernhard Hoëcker sagt: »Natürlich war auch schon 2006 das Blackfacing nicht in Ordnung.«6 


Sich bei Toleranz oder gar Begeisterung für Diskriminierung, Beschämung, Übergriffe und (sexualisierte) Gewalt auf ein lapidares »Naja, hinterher ist man immer schlauer« herauszureden, darf keine Option sein. Zur Erinnerung: Wir haben Zeiten hinter uns, in denen ein mittelalter Moderator im nationalen Fernsehen der 15-jährigen Britney Spears Fragen zu ihren Brüsten gestellt hat. Und Spears nur einer von mehreren minderjährigen weiblichen Stars war, für die es geifernde Countdowns bis zu ihrer Volljährigkeit gab.7 Also ja: Das hätten wir wissen können und müssen. Zumal es auch immer Menschen gab, die dagegen geredet und gehandelt haben.

Warum haben wir nichts gesagt?


Männer wie Kurt Cobain und Michael Stipes haben schon in den 1990ern Sexismus und Homophobie kritisiert. Männer wie Clark Gable haben sich in den 1940ern in den segregierten USA für ihre schwarzen Co-Stars engagiert, Veranstaltungen boykottiert und viel riskiert, um das Richtige zu tun. Es geht nicht darum, fehlbare Menschen zu Heiligen zu erklären. Es geht darum, unmissverständlich festzustellen, was wir hätten wissen müssen und tun können. Denn die Basis war immer da: durch die unermüdliche Bildungsarbeit von Feministinnen und anderen Aktivst*innen. An den Positionen des republikanischen Senators und Präsidentschaftskandidaten John McCain war vieles problematisch. Das ändert aber nichts daran, dass er im Wahlkampf seinen Kontrahenten Barack Obama gegen die eigene Wählerschaft in Schutz nahm, als diese Obama als »Araber« bezeichnete.8


Gerade wir Deutschen sollten uns selbst und auch niemanden sonst damit davonkommen lassen, von nichts gewusst und nichts unternommen zu haben. Ja, es gibt einen Zeitgeist. Und es ist verführerisch, sich ihm zu unterwerfen. Diskriminierende, gewaltvolle Mehrheitsmeinungen immunisieren sich gegen Kritik und entwerten Menschen, die gegen sie aufbegehren. Da ist es nicht leicht, den Mund aufzumachen. Aber die goldene Regel, nach der man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte, gab es zu allen Zeiten, in allen Kulturen und Religionen. Dass unsere Freiheit da aufhört, wo die der anderen beginnt, wissen wir auch nicht erst seit gestern.

Wie kann Feminismus helfen?


Neben vielen anderen Dingen ist Feminismus eine starke Antwort auf die Antastbarmachung der Würde des Menschen: Feminismus stimmt lautstark zu, dass die Würde des Menschen unantastbar sein sollte und stellt zugleich fest, dass sie jeden Tag angetastet wird. Insbesondere die von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen. Also geht der Feminismus auf die Barrikaden. Er fordert, schreit, protestiert, hakt nach, transformiert, stößt an und um und lässt nicht locker.

Feminismus erinnert die Gesellschaft daran, dass Diskriminierung, Übergriffe und Gewalt schon immer falsch waren. Es sind Feminist*innen, die unter großen Mühen und Gefahren mächtige Männer nicht mit ihrem Fehlverhalten davonkommen lassen. Es sind Feminist*innen, die aufbegehren und nicht zulassen, dass wir mit einer achselzuckenden Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit die Gegenwart beschwichtigen und die Zukunft kontaminieren.


»Im Patriarchat hört dich niemand schreien« schreibt die Autorin Rebecca Solnit und hat leider recht.9 Deswegen ist es umso wichtiger, genau hinzuhören. Denn bei genauerem Hinhören wird klar: Es wurde schon immer geschrien. Und man hätte auch schon immer etwas tun können. Das gilt natürlich auch für die Gegenwart. Wir leben in einer Zeit, in der das Hinhören wieder so wichtig geworden ist wie lange nicht. Und dass Aufstehen etwas bringen kann, haben wir gerade am Montag in den Nachrichten gesehen: Erst nach lautstarken Protesten und Boykottaufrufen hat sich der Lobbyverband »Die Familienunternehmer« von seinem Kuschelkurs mit der AfD verabschiedet.10 Und ganz allgemein gilt es dem Faschismus nicht das Wort zu reden, Menschenrechte zu verteidigen, marginalisierte Menschen zu schützen und für Gleichberechtigung zu streiten. Das ist nicht verhandelbar. Das war es nie und das wird es auch nie sein.

Ganz herzliche Grüße

von euren PINKSTINKS-Politikbeobachter*innen

Lesetipp zum Stichwort Rechtskuschelei: In ihrem Newsletter »Adé AfD« hat Franzi von Kempis Argumentationshilfen für die Frage »Muss ich die AfD einladen?« aufgeschrieben. Diese Frage stellen sich Verbände, Vereine und Unternehmen derzeit leider und viel zu oft wird sie nicht sofort mit »Was soll die Frage?!? Nein! Natürlich nicht!« beantwortet. Wenn das auch bei euch im Umfeld passiert, habt ihr dank Franzi von Kempis nun hilfreiche Sätze und Anleitungen parat.


P.S.: Weil so viele von euch nachgefragt haben: Ja! Unser wunderschönes knall-lila Notizbuch gibt’s jetzt auch zu kaufen! Bestellt es doch schnell noch vor Weihnachten direkt bei uns im Shop.

P.P.S.: Kennt ihr das Phänomen »performative male«? Unser Autor Nils Pickert schaut aus der Sicht eines feministischen Mannes darauf und stellt fest: Auch er läuft Gefahr, als »performative male« abgestempelt zu werden. Das scheint unfair. Aber er versteht, warum feministisch auftretenden Männer oft Misstrauen entgegenschlägt. Welche Lösung Nils für das Dilemma sieht, lest ihr in seinem Text.

Quellen:

1: spiegel.de: »Liedermacher Konstantin Wecker soll sexuelle Beziehung zu Minderjähriger gehabt haben« vom 19.11.2025 (besucht am 02.12.2025)
2: sueddeutsche.de: »Der Mann und das Mädchen« vom 19.11.2025 (besucht am 02.12.2025) (€)

3: vice.com: »Elvis Presley – der King und seine Vorliebe für minderjährige Mädchen« vom 11.10.2026 (besucht am 02.12.2025)

4: bild.de: »Meine wilde Zeit mit David Bowie« vom 13.01.2016 (besucht am 02.12.2025)*

5: standard.at: »Kollektive Körperbildstörung dank Renée Zellweger in "Bridget Jones"« vom 20.10.2023 (besucht am 02.12.2025) 

6: rnd.de: »Rassismus und Blackfacing als Teil der Comedy - Immer mehr Komiker reflektieren alte Gags« vom 27.09.2020 (besucht am 02.12.2025)

7: buzzfeed.com: »11 Famous Women Who Were Horribly Mistreated And Sexualized As Child Stars In Hollywood« vom 28.07.2022 (besucht am 02.12.2025)

8: bernerzeitung.ch: »McCain nimmt Obama in Schutz« vom 12.10.2008 (besucht am 02.12.2025)

9: lithub.com: »In Patriarchy No One Can Hear You Scream: Rebecca Solnit on Jeffrey Epstein and the Silencing Machine« vom 10.07.2019 (besucht am 02.12.2025)

10: de.euronews.de: »Lobby der Familienunternehmen rudert nach Shitstorm wegen AfD-Einladung zurück« vom 02.12.2025 (besucht am 02.12.2025)


* Hinter dieser Quelle liegt kein Link, weil wir Medien des Axel-Springer-Verlags keine Reichweite verschaffen wollen. Die Nennung des Artikels ohne Link dient der Dokumentation.

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