Liebe Freund*innen,
Dieter Wedel, Luke Mockridge, Julian Reichelt, Til Schweiger. Vier. Hm. Das sind ja gar nicht viele. Kann das sein? In den USA hat die #MeToo-Bewegung seit Oktober 2017 reihenweise mächtige Männer der Kultur- und Unterhaltungsindustrie benannt, weil sie ihre Macht missbraucht haben.1 Und das Ende ist noch nicht absehbar. Aber in Deutschland sollen es nur vier gewesen sein? Äh. Unwahrscheinlich.
Schauen wir uns doch mal an, was nach dem Bekanntwerden von missbräuchlichem Verhalten passiert ist: Regisseur Dieter Wedel ist vier Jahre nach den großen Enthüllungen in der „Zeit“ gestorben. Er war 82 Jahre alt, die meisten Vorwürfe waren verjährt, der letzte Prozess konnte nicht beendet werden.2 Comedian Luke Mockridge ist sechs Monate nach den Enthüllungen wieder aufgetreten, knapp ein Jahr später hat ihn Sat.1 wieder ins TV-Programm genommen und seit April ist er mit seiner neuen Tour unterwegs.3 „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt wurde erst beurlaubt, dann durfte er zurück auf seinen Posten – erst als öffentlich immer mehr bekannt wurde, hat der Springer Verlag Julian Reichelt gefeuert. Und dann hat der Verlag mit allen Mitteln versucht, den eigenen Ruf zu schützen, anstatt verstehen zu wollen, was das Problem ist. Jetzt arbeitet Reichelt an einem Medien-Comeback.4 Schauspieler und Regisseur Til Schweiger? Ist nach den „Spiegel“-Veröffentlichungen im April nach Mallorca geflogen, und die Produktionsfirma Constantin Film wies die Vorwürfe erst zurück und sprach ein paar Tage später von individuellen Problemen.5 Das alles ist bitter. Denn es suggeriert: Das sind nur Einzelfälle und nach einer Pause dürft ihr weitermachen, Jungs.
Doch das stimmt nicht. Das sind keine Einzelfälle, sondern strukturelle Probleme. Was sich schon daran ablesen lässt, dass in allen vier Fällen im Nachhinein von einem „offenen Geheimnis“ gesprochen wurde. Es war seit Jahren bekannt, wie Reichelt in der „Bild“ arbeitet, wie er seine Macht ausnutzt und dass in der Redaktion eine toxische Kultur herrscht. Es war seit Jahren bekannt, wie Wedel mit den Schauspielerinnen umging, die er engagierte. Genau wie Til Schweigers Verhalten am Set und ja, auch über Luke Mockridges Umgang mit Frauen gab es längst Gerüchte und Warnungen. Alles „offene Geheimnisse“ in Branchen, in denen es große Machtgefälle und Abhängigkeiten gibt. In denen es wichtig ist, beim Chefredakteur oder Star einen guten Eindruck zu hinterlassen, um neue Aufträge zu bekommen oder wieder engagiert zu werden. Diejenigen, die sich ohnmächtig fühlten, warnten sich untereinander, hielten aber aus Angst öffentlich den Mund. Und diejenigen, die mächtig genug gewesen wären, den Missbrauch zu stoppen, hatten kein Interesse daran. SIE HATTEN KEIN INTERESSE DARAN.
„So arbeitet ein Genie eben.“ – „Er hat doch Erfolg.“ – „Ist halt ein toughes Business. Wenn du hier arbeiten willst, musst du damit umgehen können.“ Widerliche Sätze, die in unterschiedlichen Varianten immer wieder fallen. Seit Jahrzehnten. Und auch weiterhin fallen werden, wenn die wirklich Verantwortlichen sich ihrer Verantwortung nicht stellen. Martin Moszkowicz, der Chef der einflussreichen Filmproduktionsfirma Constantin Film. Mathias Döpfner, der Chef des Springer Verlags. Daniel Rosemann, der Senderchef von ProSieben und von Sat.1. Und alle Personen in entscheidenden Positionen in der Branche, die mit Schweiger, Wedel, Reichelt, Mockridge und all den anderen bisher nicht bekannten Männern zusammengearbeitet haben und zusammenarbeiten.
Wie gut, dass es Betroffene gibt, die trotz allem den Schritt wagen und ihre Geschichte erzählen. Wie gut, dass es Journalist*innen bei „Zeit“, „Spiegel“ und anderen Redaktionen gibt, die in den vergangenen Jahren daran gearbeitet haben, diese „offenen Geheimnisse” wirklich öffentlich zu machen. Und auch gerade jetzt – während ihr das lest – weiter daran arbeiten. Wie gut, dass es mittlerweile für die Film- und Musikindustrie die Beratungsstelle Themis gibt, an die sich Betroffene wenden können.6 Wie gut, dass es prominente Kolleg*innen wie Hazel Brugger und Nora Tschirner gibt, die öffentlich Aufklärung fordern. Oder wie Ursula Karven, die es mit einer erfolgreichen Petition gegen sexuelle Belästigung im Arbeitsleben bis in den Bundestag geschafft hat.7
Wie wir als Gesellschaft mit den Veröffentlichungen umgehen, wie wir öffentlich darüber sprechen, welche Schlüsse wir daraus ziehen – davon hängt ab, ob Martin, Mathias, Daniel und Co. einsehen, dass sie etwas grundlegend ändern müssen. Wir dürfen nicht mit den Schultern zucken und einfach weitermachen. Wir müssen den Menschen Raum geben, die ihre erschütternden Erfahrungen teilen. (Ihnen Raum geben, Benjamin Stuckrad-Barre! Nicht ihnen den Raum wegnehmen.8) Wir müssen gemeinsam diskutieren, wie wir miteinander arbeiten wollen, welche Strukturen geeignet sind, welche politischen Rahmenbedingungen wir brauchen. Und dann müssen wir aufmerksam bleiben und immer wieder hinschauen, ob sich etwas geändert hat – nicht nur an #MeToo-Jahrestagen. Weil Wedel, Mockridge, Reichelt und Schweiger eben keine „Einzelfälle“ sind, sondern strukturelle Probleme, die es möglich machen, dass mächtige Männer ihre Macht ausnutzen können.
Ja, vier prominente #MeToo-Fälle sind noch nicht viele. Aber der Druck nimmt zu, wie im Springer Verlag gerade zu beobachten ist. Denn: Unternehmen, in denen eine toxische, sexistische Kultur offengelegt wird, verlieren an Wert.9 Und das werden sich auch die Verantwortlichen bei Constantin Film genau anschauen. Nein, natürlich soll der Markt das nicht regeln (auch wenn die FDP uns immer wieder in allen möglichen Situationen verspricht, dass der Markt das Allheilmittel sei). Doch hier ist die Reaktion des Marktes ein hilfreicher Nebeneffekt, der den Druck erhöht.
Für diesen Newsletter haben wir vor allem geschaut, wie es in der Kultur- und Medienbranche aussieht. Ein kurzer Blick in den Sport und in die Sterneküchen zeigt: Auch hier tut sich etwas! Einzelne Sportler*innen sprechen über traumatisierende Erfahrungen, einzelne Trainer wurden gefeuert, zögerlich haben einzelne Verbände Untersuchungen begonnen.10 Oder die Boxerin Sarah Scheurich, die mit „Coach, don’t touch me“ eine Initiative gegen sexuelle Gewalt im Sport gestartet hat.11 Und in den Sterneküchen: Anfang Mai musste der mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch Christian Jürgens gehen, weil er seine Mitarbeiter*innen beschimpft, geschlagen und sexuell bedrängt haben soll. Das übliche Muster: Den Verantwortlichen war sein Verhalten seit Jahren bekannt. Aber erst, als im „Spiegel“ darüber ausführlich berichtet wurde, haben die Verantwortlichen Konsequenzen gezogen und ihn freigestellt.12
Alles sieht danach aus, als würde die #MeToo-Bewegung in Deutschland endlich Fahrt aufnehmen. Als würde sich endlich etwas verändern.
Wir bleiben dran, versprochen. Hoffnungsvolle Grüße!
Euer Pinkstinks Team
PS: Wer die eigenen Rechte kennt, kann sich besser zur Wehr setzen: Deswegen verlosen wir das sehr hilfreiche Buch „Arbeitsrecht für Arbeitnehmer*innen“ von Julia Oesterling. Wie ihr eins von fünf Exemplaren gewinnen könnt, erfahrt ihr weiter unten.