Liebe Freund*innen,
in Berlin stehen SPD und Union offenbar kurz davor, einen Koalitionsvertrag zu präsentieren. Während seit einigen Tagen spekuliert wird, welche Partei wo zurückstecken musste und wie die jeweilige Parteibasis auf den Vertrag reagieren wird, wollen wir mit euch heute einen Blick auf ein Thema werfen, das das neue Parlament die nächsten Jahre auf jeden Fall bestimmen wird: mangelnde Repräsentation.
Wie repräsentativ ist der Bundestag?
Wenn wir in Deutschland von mangelnder Repräsentation sprechen, wird damit häufig die zahlenmäßige Überbeteiligung von Männern gegenüber Frauen an unterschiedlichsten (Macht-)Positionen in den Blick genommen. Sie ist datentechnisch gut belegbar, seit Jahrzehnten dauerpräsent und angesichts der Tatsache, dass Frauen mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen, absolut unhaltbar.1 Das gilt auch für den Bundestag. Im neuen Parlament ist der ohnehin unfair geringe Frauenanteil von 34,8 % auf 32,4 % gesunken. Das liegt vor allem an der Union und der AfD, deren Fraktionen besonders wenig Frauen angehören.2 Aber auch jenseits des sichtbar zu geringen Frauenanteils steht es um die Repräsentation in unserer repräsentativen Demokratie schlecht: Die sogenannte Repräsentationslücke wächst, wie die tollen Leute von Brand New Bundestag erhoben haben.3 Junge Menschen. Menschen mit Behinderung. Von Armut betroffene Menschen. Menschen mit Migrationsgeschichte. Queere Menschen. Trans* Menschen. Alleinerziehende Menschen. Oder einfach nur Menschen, die vor ihrem Mandat nicht einem Rechts- oder Verwaltungsberuf nachgegangen sind, finden in unseren Parlamenten und vor allem im Bundestag zu selten statt.4
Die politischen Geschicke dieses Landes werden mehrheitlich von heterosexuellen weißen cis Männern ohne Behinderung jenseits der 50 bestimmt, die vorher irgendwas mit Jura gemacht haben und Michael, Thomas oder Stefan heißen.5 Und so sieht ihre Politik dann eben oft auch aus.
Warum ist das ein Problem?
Zweifellos können sich Michael, Thomas und Stefan auch der Belange und Probleme von marginalisierten Gruppen annehmen, denen sie nicht angehören. Aber zum einen verfestigt sich dadurch der Eindruck, dass Macht nur von generisch männlichen Amtsträgern ausgeübt werden sollte. Jede Sichtbarkeit für alle Nicht-Michael-Thomas-Stefane wird genommen. Jegliche Vorbildfunktion, die Ausdruck einer organischen, konkreten Teilhabe wäre, fehlt. Und zum anderen tun sie es einfach nicht. Die parlamentarische MiThoSte-Boyband macht Politik für ihre Fans, denn da liegen die Stimmen und Spenden. Deshalb hat die FDP beispielsweise auch lieber Politik »für reiche Erben und die gottverdammten Hotelbesitzer«6 gemacht, anstatt für eine alleinerziehende Mutter eines neurodiversen Kindes. Oder unter dem Applaus von CDU/CSU über eine »Zunahme von Armutsberichten, aber nicht von Armut« gewettert.7
Politik kann nur so gut sein, wie es ihr gelingt, Gesellschaft in ihrer Gänze zu repräsentieren und Problemlösung nicht als Dienstleistung an einer wählenden beziehungsweise spendenden Klientel zu begreifen, sondern als gesamtgesellschaftliche Verbesserung. Anders formuliert: Wenn sich Michael, Thomas und Stefan nur um Michael-Thomas-Stefan Belange kümmern, fliegt uns der ganze Laden um die Ohren. Dann werden die Belange von Serap und Lambros weiterhin als irrelevant und uninteressant markiert. Für sie bleibt nur der Schluss: Die Gesellschaft, die von ihnen getragen und gestaltet wird, stuft sie als gesellschaftsunwürdig ein. Als Mittel zum Zweck. Als Fachkraft. Als vorübergehend.
Eine wirklich repräsentative Politik und Machtverteilung ist einer der wichtigsten Hebel, um gesellschaftlichen Fliehkräften etwas entgegenzusetzen. Letztendlich bedeutet Repräsentation, dass alle Beteiligten ihr Zusammenleben gemeinsam regeln und gestalten und nicht über die Köpfe von Betroffenen hinweg entschieden wird. Und genau darauf kommt es an.
Wie kann das gelingen?
Was passiert, wenn man die Repräsentation von Diversität nicht aus Überzeugung vornimmt und politisch verankert, lässt sich gerade an den USA und global operierenden Firmen beobachten. Maßnahmen zur Sichtbarmachung und Förderung von Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion wurden nach Trumps Amtsantritt von großen Konzernen wie Disney oder Amazon eingestellt. Schwarze Menschen, die den Aufbau und Erhalt ihrer Gesellschaften teilweise mit ihrem Leben bezahlt haben, werden aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht, so als hätte es sie und ihre Geschichte nie gegeben.8 Trans* Personen wird die Existenz abgesprochen.9
Die Folgen sind verheerend und zeigen an, wie tief Gesellschaften absteigen, die die Repräsentation von Diversität mehrheitlich immer nur als leider notwendige Anbiederung an den Zeitgeist verstanden haben, statt als Integrationsmaßnahme und wirksames Mittel gegen Zerfallsprozesse. Wie also lässt sich dieser Abstieg verhindern? Mit Repräsentation von Anfang an. Quoten reichen bei weitem nicht aus. Sie erzwingen lediglich Teilhabe in spezifischen Feldern, wenn es eigentlich schon zu spät und zu wenig passiert ist. Gesellschaftliche Teilhabe heißt Inklusion und Antidiskriminierung. Heißt Kinderrechte und die Bekämpfung von Armut. Heißt letztendlich auch die Abschaffung eines dreigliedrigen Schulsystems, in dem vornehmlich weiße Bildungseliten am oberen Ende unter sich bleiben können, während der Rest halt zusehen muss, wo er bleibt.
Wenn wir am Ende auf den Bundestag schauen und uns vollkommen zu Recht über die mangelnde Repräsentation von Frauen beklagen, ist es eigentlich schon zu spät. Dann nehmen wir nur im sichtbarsten Moment an der belegbarsten Nichtrepräsentation Anstoß, während wir viel früher hätten anfangen müssen. Nämlich ganz am Anfang und mit aller Konsequenz. Lasst uns gemeinsam daran arbeiten und gleichzeitig weiterhin unsere Forderung einbringen, Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven Teilhabe an Politik zu ermöglichen!