Liebe Freund*innen,
es gibt ein Wahlkampfthema, das uns schon seit einigen Wochen auf der Seele liegt, doch weil wir dafür etwas länger ausholen müssen, passt es nicht in unser knappes Mittwochs-Format. Deswegen haben wir uns entschieden, euch heute ein extra Wahl-Extra zu schicken.
Das Thema Migration hängt nicht mit dem Thema innere Sicherheit zusammen - wie die Zahlen seit vielen Jahren immer wieder zeigen. Und trotzdem machen vor allem CDU und auch die SPD seit Jahrzehnten Wahlkampf auf dem Rücken von Menschen, die bewusst als fremd und nicht zugehörig markiert werden.
Die ausführliche Version:
Das Thema Migration bestimmt den Wahlkampf. Ob an Stammtischen, in den sozialen Netzwerken, in Fußgängerzonen oder im Bundestag: An der Frage, wie Deutschland in den nächsten Jahren mit dem Thema Migration umgeht, entzünden sich gerade nicht nur Gespräche, sondern auch Wahlentscheidungen. Und damit meinen wir nicht die AfD, sondern die demokratischen Parteien. So scheint die CDU nach der Bluttat von Aschaffenburg der Auffassung zu sein, dass diese Wahl nur dann gewonnen werden kann, wenn die politische Mitte von folgendem überzeugt wird: Dass wir es in Sachen Migration mit einem eklatanten Problem tun haben, das unsere Sicherheit bedroht und mit aller Härte und rechtsstaatlich fragwürdigen Mitteln gelöst werden muss. Das geschieht nicht zum ersten Mal.
Um zu verstehen, warum der Wahlkampf 2025 so geführt wird, hilft ein Blick darauf, wie in Deutschland grundsätzlich mit migrationspolitischen Fragen umgegangen wird.
Die seit Mitte der 1950er-Jahre betriebene Anwerbepolitik Deutschlands um Arbeitskräfte aus dem Ausland endet 1973 mit dem Anwerbestopp. Spätestens zu diesem Zeitpunkt versuchen die führenden Politiker*innen den »Gästen« mit aller Macht zu verdeutlichen, dass sie in Deutschland nicht länger erwünscht sind. Nicht nur Vertreter*innen der Regierungsparteien, sondern alle damals im Bundestag vertretenen Parteien beteiligen sich daran. Die infolge der zweiten Ölkrise von 1979 schwierige wirtschaftliche Situation wird parteiübergreifend »den Ausländern« und deren »Belastung des Sozialstaats« in die Schuhe geschoben.
Im Juni 1981 erscheint mit dem »Heidelberger Manifest« ein Aufruf deutscher Professoren gegen die »Unterwanderung des deutschen Volkes und der Überfremdung der deutschen Sprache«. Man habe »kein Problem mit dem Gastarbeiter schlechthin«, sondern nur mit seinem »asiatischen Anteil«.1 Zugleich wird nicht nur in der Boulevardpresse die »Fremdenfeindlichkeit« der Bevölkerung geschürt, sondern auch in anderen Medien, zum Beispiel dem »Spiegel«.2 Im selben Jahr erklärt der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, dass die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sein und werden will. Wenige Monate später lässt er sich vom »Stern« mit dem Satz zitieren, ihm käme kein Türke mehr über die Grenze.3
1983 wird das deutsche Rückkehrhilfegesetz unter Federführung der CDU beschlossen, um die türkischstämmige Bevölkerung aus dem Land zu »motivieren«. Kurz zuvor hat der frisch gewählte Bundeskanzler Helmut Kohl der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in Bonn erklärt, dass es über die nächsten vier Jahre notwendig sein werde, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren – er dies aber noch nicht öffentlich sagen könne.4
Weil die Zahl der in Deutschland lebenden Migrant*innen Mitte der 80er sinkt, während die Zahl der Asylsuchenden aufgrund globaler Krisen und Kriege steigt, ändern sich die Vokabeln, nicht aber der rassistische Ton. Nun ist von »Asylmissbrauch« die Rede und davon, dass »das Boot voll ist«. Die Debatte wird immer absurder. Asylsuchende »nehmen uns Deutschen die Arbeitsplätze weg« und sind gleichzeitig »faul«. Politiker*innen, die sich laut darüber beschweren, dass Asylsuchende sich in Deutschland »in die soziale Hängematte« legen, beschließen 1986 die Wartezeit auf eine Arbeitserlaubnis auf 5 Jahre zu verlängern.5 Und schaffen damit genau die Stimmung, die 1992 zu den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen und zu den Mordanschlägen von Mölln beitragen. Helmut Kohl, noch immer Bundeskanzler, lässt sich bei der Trauerfeier der Angehörigen entschuldigen. Auf Nachfrage erklärt sein Sprecher, die Bundesregierung möchte keinem »Beileidstourismus« Vorschub leisten.
Und so geht es weiter, immer weiter bis in die Gegenwart. Deutschland ist in Sachen Migrationspolitik verhaltensauffällig. Statt bei Problemen und Krisen politische Verantwortung zu übernehmen und Reformen einzuleiten, einigt man sich in Deutschland vor allem rechts der Mitte darauf, Migration nahezu ausschließlich als Problem darzustellen.
Und falls sie doch mal nicht verteufelt werden kann, dann wählt man Spezialformulierungen, die suggerieren sollen, dass es sich um einen kontrollierten, die Gesellschaft nur minimal transformierenden Prozess handelt. »Fachkräftemangel« zum Beispiel. Der Begriff framt Menschen als Funktionsträger: Wir als deutsche Gesellschaft haben Bedarfe, die von ausländischen Arbeitskräften gedeckt werden sollen, mehr wollen wir von »denen« nicht. Aber so funktionieren Migration und Asyl nicht. Es siedeln sich keine Funktionen in Deutschland an, sondern Menschen. Menschen mit Familien, Biografien, dem Wunsch nach Aufstiegschancen und Teilhabe.
Doch in Deutschland wird die Migrationsfrage nahezu durchgehend faktenfrei verhandelt. Statt um Aufgaben und Möglichkeiten geht es um »gefühlte Ausländeranteile« und empfundene Bedrohungslagen. Und zwar immer mit Verweis auf Deutschlands Sicherheit. Deswegen müssen wir jetzt auf das Thema Sicherheit zu sprechen kommen. Zuerst zwei Fakten, die in dem Zusammenhang entscheidend sind, aber viel zu oft ignoriert werden: Deutschland gehört zu den 20 friedlichsten Ländern der Welt.6
Und es ist eines der sichersten.7
Wie in den meisten westeuropäischen Ländern ist die Anzahl der Straftaten seit Mitte der 90er-Jahre tendenziell rückläufig, seit Mitte der 2000er-Jahre gilt dies auch für Gewaltstraftaten. (Oder, wie Christian Stöcker es in seiner Kolumne im »SPIEGEL« so treffend formuliert hat: »Deutschland ist sehr sicher – außer man ist eine Frau oder im Visier von Rechtsextremen.«8) Es gibt zwar immer wieder Jahre, in denen die Zahl spezifischer Straftaten ansteigt, aber das gilt gegenüber dem Vorjahr, nicht gegenüber dem allgemeinen Trend.
Trotz dieser eigentlich beruhigenden Zahlen (für alle, die nicht weiblich und nicht im Visier von Rechtsextremen sind) scheint die deutsche Bevölkerung in hohem Maße verunsichert zu sein und steigert sich in einen Zustand gefühlter Maximalbedrohung. Und sie tut das aufgrund ihrer migrationspolitischen Verhaltensauffälligkeit vielfach auf Kosten von eingewanderten Menschen und Menschen aus eingewanderten Familien. Während die Presse über Eingewanderte und Geflüchtete auffällig oft in kriminellen Zusammenhängen berichtet, plakatiert die CDU »Null Toleranz Für Clans« und meint damit selbstverständlich nicht die Nazivergangenheit oder die Steuervermeidungsstrategien großer deutscher Familienkonzerne.9
Die CDU sagt »Nein zu einer linken Migrationspolitik«, die es so schon deshalb nie gegeben hat, weil die CDU die Migrationspolitik in weiten Teilen selbst verantwortet hat. Und sie beschwört Migration immer wieder als außer Kontrolle geratenen Problemfall. Dabei ist Deutschland selbst das Problem. Seit 70 Jahren weigert es sich politisch und medial, die schlichte Tatsache zu akzeptieren, dass es Einwanderungsland ist und diese Einwanderung politisch gestalten muss. Deutschland interessiert sich nicht dafür, dass es pro Jahr eine Zuwanderung von 1,4 Millionen Menschen braucht, um dem Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen.10 Es will auch nichts davon wissen, dass Krankenkassen von Zuwanderung profitieren.11 Und es weigert sich nach wie vor, einfache, verbindliche Regeln festzulegen, nach denen Menschen nachvollziehbar zuziehen und die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben können. Die Sorge ist offenbar: Am Ende hat noch jemand einen Rechtsanspruch auf Aufenthalt und Einbürgerung, wo kämen wir denn da hin?!
Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: in ein besseres Deutschland. Dass die Politik bei Straftaten von Personen aus eingewanderten Familien oder asylsuchenden Personen – genau wie bei allen anderen Personen, die in Deutschland leben – nicht wegschauen darf, ist selbstverständlich. Genauso selbstverständlich sollte es aber auch sein, dass die Politik nicht Teile der Bevölkerung in Sippenhaft nimmt, ignoriert, denunziert, herabwürdigt und bedroht. Deutschland ist ein plurales, vielfältiges Land. Es braucht eine Politik, die dieser Tatsache gerecht wird, Möglichkeiten nutzt und Probleme benennt und beseitigt. Das wäre die so dringend notwendige migrationspolitische Wende.