Hallo Friend,
wie oft hast du in den vergangenen Jahren das Wort "skalieren" gehört? Ich höre es ständig. Bei der Geldanlage - vor allem bei den Immobilien und Kryptowährungen. Bei der Selbstständigkeit bzw. Unternehmertum. Beim Blog oder den Podcasts. Wer nicht skaliert ist blöd, könnte man denken. Mit Scalable gibt es sogar einen Neobroker, der das Skalieren schon im Namen hat.
Hinter dem Begriff steckt im betriebswirtschaftlichen Sinn, die Fähigkeit den Umsatz zu steigern - ohne gleichzeitig größere Investitionen tätigen zu müssen. Bei vielen der Immobilieninvestoren wird beispielsweise mit Krediten gehebelt bis irgendwann das fragile Gebilde zusammenbricht. Die profitieren aber tatsächlich in erster Linie von den Mickerzinsen.
Beim Unternehmertum wird so stark automatisiert, dass es von ganz allein wächst und die Einnahmen immer weiter steigen. Je effizienter und automatisierter der Arbeitsprozess, desto höher der Umsatz und am Ende der Gewinn. An der sogenannten Plattformökonomie á la Amazon, Facebook, Booking etc. lässt sich das sehr gut beobachten. Für mich ist das der Inbegriff von Skalierung.
Das Leben auf Kriech- und Mittelspur
Im normalen Angestelltenverhältnis lässt sich nicht skalieren. Die Rechnung Zeit für Geld ist hier der limitierende Faktor. Ab und an gibt es eine Gehaltserhöhung. Wenn ich in meine Fähigkeiten investiere und dem Unternehmen mehr bieten kann, gibt es mehr Gehalt bei meinem Arbeitgeber oder in einem neuen Job, wo meine Fähigkeiten besser passen. So weit, so normal.
Aber jetzt mal ehrlich: Bestimmt 95 % meiner Newsletter-Leserinnen und -Leser zählen zu den Menschen mit einem normalen Angestelltenverhältnis. Ist das schlimm? Nein, natürlich nicht! Und das sage ich als Selbstständiger mit vorherigen vier Anstellungen in ganz unterschiedlichen Branchen.
Ich kenne beide Seiten und sie haben beide ihre Vor- und Nachteile. Ehrlich gesagt geht mir die zunehmende Glorifizierung von Unternehmertum, Selbstständigkeit und viel Geld im Portemonnaie derbe auf den Sack. Wenn man sich viele der Blogartikel, Podcast-Folgen oder YouTube-Videos anschaut, kommt man sich schnell vor wie ein Mensch zweiter Klasse mit einem öden Job und nervigen Kollegen. Aber warum muss denn Erwerbsarbeit immer automatisch schlecht sein?
Auf der anderen Seite wird das Verlangen geweckt, aus dieser nervigen Situation auszubrechen. Endlich selbst bestimmen, was man machen will. Keinen alles besser wissenden Chef oder neunmalkluge Chefin zu haben, die beide eh keine Ahnung haben. Und endlich kein Geläster mehr in den Kaffee- oder Raucherpausen. Das zieht einen immer so runter. Wäre das nicht schön?
Ich habe das alles zur Genüge mitgemacht und hatte auch keine Lust mehr darauf. Aber die Selbstständigkeit und das Unternehmertum haben mindestens genau so viele Fallstricke und Nervfaktoren. Von wegen immer nur auf der Überholspur skalieren, aber dann isoliert in der eigenen Kammer sitzen und ständig über das Skalieren zu schreiben bzw. sprechen, damit Geld reinkommt.
Reiche Schaufelverkäufer
Ich muss es wirklich so sagen: Mittlerweile sind so viele Schaufelverkäufer online unterwegs, die sich mit dem Verkaufen von Träumen eine goldene Nase verdienen. Leider gehen die Goldsucher selbst meistens leer aus und fallen beim Ausbrechen aus dem Hamsterrad böse auf die Nase.
Nicht, weil es schlecht ist, sondern weil es völlig subjektiv ist, teilweise falsche Annahmen trifft und von einem Beispiel auf Millionen andere Menschen geschlossen wird. Das Motto: Mache dich selbstständig, skaliere bis der Arzt kommt, kauf dir einen pfeilschnellen Luxuswagen und eine dicke Hütte. Im Job wirst du es trotz Studium eh zu nix bringen und du wirst immer nur auf der Kriech- oder langsamen Mittelspur bleiben - nicht auf der tollen Überholspur.
Teilweise war da auf den 530 Seiten schon einiges an überheblichem Geschwafel und auch so einige Wiederholungen dabei. Trotzdem hat DeMarco mit vielem, was er schreibt absolut recht. Er legt sehr oft den Finger in die Wunden von den "Normalos". Nur das "Wie" passt so überhaupt nicht zu mir persönlich.
Börse nur für Kriechspur-Schleicher
Ich finde es wirklich gut, wenn amerikanische Bücher auch auf deutsch erscheinen. Dann sollte es aber entsprechend aktualisiert und auf den deutschen Markt angepasst werden. Das beste Beispiel ist natürlich das Thema Börse: MJ DeMarco hat ein sehr schlechtes Bild von Aktien, ETFs und Co., weil es unendlich lange dauert bis man reich wird.
Wer hat schon Zeit und Lust 40 Jahre lang zu warten, bis das Vermögen durch Kurssteigerungen und Zinseszins angestiegen ist. Das muss doch viel schneller gehen, sonst ist man tot bevor endlich die Freiheit als Rentner losgeht. "Reich im Rollstuhl" nennt DeMarco das. Damit man früher reich wird, kommt dann der Sermon mit Skalieren, Selbstständigkeit und Co. - und ganz viel Selbstbeweihräucherung.
Wer das frisch übersetzte Buch im Jahr 2021 liest, wird sich aber wundern, warum DeMarco davon ausgeht, dass die Börse ein Wertvernichter ist. Die Börsen gehen doch seit über zehn Jahren nur nach oben. Des Rätsels Lösung: Das ursprüngliche Buch stammt aus 2011 und wurde unter den Eindrücken der Finanzkrise von 2008/2009 geschrieben. 2018 gab es dann ein englisches Update. Daraus ist dann die deutsche Variante 2021 entstanden.
Hier mal ein Zitat von Seite 170: "Zwischen 2008 und 2009 haben die Aktienmärkte zum Beispiel fast 60 % verloren. Wenn Sie 15 Jahre lang gespart und 100.000 Dollar angehäuft hätten, wären von diesem Geld heute nur noch 40.000 Dollar übrig. Selbst bei einer jährlichen Rendite von 8 % würde es 14 Jahre dauern, bis Sie diesen Verlust zumindest wieder ausgeglichen hätten! Das entspricht fast 30 verschwendeten Jahren!"
Bei einem Buch aus dem Jahr 2021 kann ich doch solche Behauptungen nicht drin stehen lassen. Es ist doch offensichtlich, dass mit dem heute das Jahr 2011 gemeint ist.
Nur mal so als Anhaltspunkt: Allein in den Jahren 2019 und 2021 betragen meine (nicht realisierten) Aktiengewinne und Dividenden jeweils so viel wie mein Angestellten-Jahresgehalt im öffentlichen Dienst. Gerade für 2021 kann sich das noch ändern, aber die Börse so als Kriechspur für Nixblicker abzutun ist kompletter Humbug. Seit der Auflage im Oktober 2009 hat beispielsweise der iShares MSCI World eine Rendite von 333 %. Ist also nix mit 30 verschwendeten Jahren aus meiner Sicht.
Die USA sind nicht Deutschland
Außerdem haben wir in Deutschland eine ganz andere Arbeitsmarkt-Situation als in den USA. MJ DeMarco arbeitete trotz abgeschlossenem Studium als Chauffeur, Burgerbrater, Essenslieferant etc., war furchtbar frustriert von dieser Situation und scheint mir generell kein einfacher Zeitgenosse zu sein. Wenn ich das Buch jetzt als unzufriedener deutscher Angestellter lese, muss ich gerade hier deutlich differenzieren. Ein Vergleich macht an der Stelle keinen Sinn!
Aber seine Geschichte und seine Rückschlüsse sind trotzdem sehr lesenswert und ich habe auch einiges mitgenommen. Abseits von der Skalierung, dem Börsenbashing, den schnellen Schwengelmeter-Autos und der ständigen Selbstbeweihräucherung steckt viel Wahrheit drin. Wenn ich ganz ehrlich bin: Das Einzige, was einen Unterschied zu den vielen anderen Finanzbüchern macht, sind persönliche Geschichten. Die sind für mich immer wieder das Salz in der Suppe. Und DeMarcos Geschichte ist faszinierend und interessant.
Als übergewichtiger Jugendlicher ohne Freunde saß MJ DeMarco fast nur vor dem Fernseher. An einem Tag hatte er Lust auf ein Eis. Vor dem Eisladen stand ein wunderbarer Lamborghini Countach, der ihn völlig begeisterte. Klein-MJ nahm all' seinen Mut zusammen und sprach den Fahrer an, was er denn beruflich macht. Die Antwort: Erfinder!
Wie wird man reich?
DeMarco erkor sich so einen Sportwagen als oberstes Ziel aus. Nur wie verdient man viel Geld, wenn man kein Supersportler, reiche Eltern hat oder schon berühmt ist. Also suchte er sich Millionäre raus, die einen reichen, extravaganten Lifestyle führten und bestimmte Kriterien erfüllten. Dazu gehörte, dass sie durchschnittliche Typen ohne besondere Talente oder Fähigkeiten sein mussten, die es trotzdem bis ganz nach oben geschafft haben. Fast jede/r Leser/in wird jetzt denken: Wow, das will ich jetzt aber auch wissen.
MJ DeMarco hat nach Jahren der anstrengenden Suche dann schlußendlich seinen Brunnen des Reichtums gefunden. Er wurde Unternehmer und konnte mit einer vergleichsweise einfachen Idee skalieren! Jetzt wurde auch nicht mehr gekleckert, sondern geklotzt. Oberstes Motto: Eine Million Dollar auf dem Konto ist langweilig, wenn dann sollten es schon zehn Millionen Dollar sein. Und ein Fuhrpark mit schnellen Autos und eine megacoole Hütte noch dazu.
Ich gebe zu, dass mich die Story dann doch gepackt hat, wenn man sich an seine Aussagen und Überheblichkeit erstmal gewöhnt hat. Jedes Kapitel wartet am Ende mit knappen Zusammenfassungen der wichtigsten Aussagen auf. Die Hinführung vom armen Fußgänger über die Kriechspur bis hin zur goldenen Überholspur ist gut und nachvollziehbar.
Und er will den LeserInnen auch nichts verkaufen, sondern nur seinen Weg und seine Rückschlüsse darstellen. Aus meiner Sicht ist das auch ein zentraler Aspekt, der ihn von vielen anderen wie beispielsweise Bodo Schäfer oder Robert Kiyosaki abhebt. Andererseits machen die ja auch genau das, was er den Lesern beibringen will: Skalieren bis der Arzt kommt. |